Donnerstag, 14. März 2019

Geschichte(n) von Gingen/Fils - Teil 1.3: Die erste bekannte Gingener Dorfherrschaft: Königin Kunigunde


© Gabriele von Trauchburg



Als zweite Frau möchte ich Ihnen die deutsche Königin Kunigunde vorstellen. Sie ist diejenige Königin, die ihren Ort Gingen im Jahre 915 an das Reichskloster Lorsch geschenkte und damit den Lauf der Gingener Geschichte bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts entscheidend beeinflusste. Was weiß man allgemein über sie? Greifen wir also auf die zuerst genannten 3 Kriterien (vgl. Teil 1.1) zurück:

Erste biographische Daten zu Königin Kunigunde
    - Info 1: Kunigunde war die erste deutsche Königin der Zeit nach den Karolingern, also nach 911
    - Info 2: Die einzige sie betreffende Urkunde ist die Schenkung Gingens von 915
Das Paradoxe an der Sache: Nicht einmal die Schenkungsurkunde von 915 stammt aus ihrer Hand, sondern in der Form wie sie überliefert ist, ist es die Bestätigung ihrer Schenkung durch ihren Ehemann König Konrad.
In der Forschung ist die Königin praktisch unbekannt, weil es kaum schriftlichen Informationen über sie gibt, zudem spielt sie im Machtgefüge ihrer Zeit kaum eine Rolle. Dennoch gibt es gute Chancen, weiteres Material über diese Frau zu sammeln, denn - im Gegensatz zu Claudia Messorina - lebte Königin Kunigunde im 9. und 10. Jahrhundert. Das bedeutet nun, dass man aufgrund der Auseinandersetzungen um die Führung im süddeutschen Raum nach der Karolingerzeit viele Akteure auf der politischen Bühne erlebt, zu denen die Königin ihre eigenen Beziehungen besaß.

Kunigundes Jugend
Ihre Geburtsjahr ist unbekannt, aber aufgrund der Tatsache, dass ihr Sohn 907 zum bayerischen Herzog und dann zum bayerischen König aufstieg, lässt doch Rückschlüsse zu. Man weiß, dass der Sohn - Arnulf der Böse - noch sehr jung bei der Übernahme seiner Ämter war, höchstens 20, eher 18 Jahre alt. Das lässt auf seine Geburt um 889 schließen. Bei seiner Geburt scheint Kunigunde noch sehr jung gewesen zu sein, vielleicht 16 oder 17 Jahre. Man kann also bei ihr auf ein Geburtsjahr um 872 schließen.
Über die Familie der Kunigunde gibt es einige gesichterte Informationen. Im Zusammenhang mit ihrer 2. Ehe erfährt man, dass sie zwei Brüder namens Erchanger und Berchtold hatte. Sie waren Pfalzgrafen, d.h. königliche Vertreter in dem von den Karolingern beherrschten Raum des ehemaligen Herzogtums Alamannien (zu dessen Umfang siehe http://www.s-line.de/homepages/m-ebener/KarteIII-2(Schwaben).html). 
Das Amt hatten die beiden Brüder von ihrem Vater Berchthold/Berthold I. geerbt, der der schwäbischen Hochadelsfamilie der Alaholfinger/Bertholde entstammte. Der Vorname der Mutter ist nicht bekannt, wohl aber ihr familiärer Hintergrund: Kunigundes Großvater war der aus den Quellen durchaus bekannte Elsässer Graf Erchanger. Die Schwester der Mutter war mit dem Karolinger Karl III. der Dicke, der für kurze Zeit das große Karolingerreich noch einmal vereinigen konnte. 
Das Zentrum von Kunigundes Familienbesitzes war die (Bertholds)Baar, d.h. vor allem im Bereich der Westalb bis etwa auf die Höhe von Münsingen, aber es gab auch noch Besitzungen rund um Kirchheim/Teck - diese letzte Anmerkung müssen wir im Auge behalten.

1. Ehe
Sie heiratete in 1. Ehe den bayerischen Markgrafen Luitpold († 4. Juli 907) aus der nach ihm benannten Adelssippe der Luitpoldinger. Dies geschah wohl um 888. Ihr Ehemann begann seinen Aufstieg im Umfeld von Kaiser Arnulf, dem uneheliche Sohn von König Karlmann von Bayern und Enkel von Ludwig d. Deutschen, dem König von Ostfranken. Kaiser Arnulfs Mutter war eine hochedle Frau namens Liutwind. Auffällig ist die Tatsache, dass sowohl die Mutter von Kaiser Arnulf von Kärnten und der Markgraf Luitpold denselben Namensbestandteil - Luit/Liut - tragen.

Exkurs: Mitteralterliche Namensgebung
Die früh- und hochmittelalterliche Namensgebung weist ganz bestimmte Merkmale auf. Zuerst einmal gab es keine Nachnamen. Die Familienzusammengehörigkeit lässt sich dennoch anhand der Vornamen rekonstruieren. Wenn man auf Namen wie beispielsweise Luit-pold, Luit-gard, Luit-bert stösst, dann darf man davon ausgehen, dass alle Namensträger zu einer Familie oder gar Großfamilie gehören. Gleiches gilt für ähnliche Namensgruppen. Wenn nun ein Mitglied der einen Namensgruppe mit einem aus einer anderen verheiratet war und Kinder bekam, dann wurden entweder gerne die Silben der einzelnen Namensgruppen zu neuen Kombinationen gemischt oder der Vorname eines wichtigen, bedeutenden Mitgliedes dem Nachwuchs gegeben.
In die erste Kategorie der Namensgattung gehörte Markgrafen Luitpold und die Mutter des Kaisers Arnulf, Liutwind. Als Luitpold vor der Frage nach der Namensgebung für seinen Sohn stand, entschied er sich für die zweite Kategorie - er benannte seinen Sohn nach seinem berühmten Verwandten, dem Kaiser Arnulf. Und eine enge Verwandtschaft würde auch den schnellen Aufstieg von Markgraf Luitpold und dessen Sohn Arnulf erklären. Die gleiche Entscheidung tragen Kunigundes Eltern, als sie ihren Sohn Erchanger nach dessen Großvater benannten.
Mit Hilfe dieses Modells und dem Vergleich von zahllosen Urkunden konnten die einzelnen Familien herausgefiltert und ihre Verbindungen hergestellt werden.       

Schlussfolgerungen aus dem mitteralterlichen Namenmodell
Markgraf Luitpold, der vermutlich aus dem Raum Freising stammt, wurde 893 von Kaiser Arnulf als Markgraf in Karantanien (Gebiet d. heutigen Kärnten und Teile Sloweniens) und Oberpannonien (nordwestl. Ungarn bis Wien) eingesetzt. 895 erhielt Luitpold die Grafschaft Donaugau und den Nordgau um Regensburg. Zudem übertrug ihm der Kasier Aufgaben in Mähren und wurde von ihm bei der Ungarnbekämpfung eingesetzt, wo er 907 während der Schlacht von Pressburg zu Tode kam.
Wohl spätestens seit der Erhebung von Luitpold zum Grafen des Nordgaus mit Zentrum Regensburg, hatte sich der Lebensmittelpunkt von Kunigunde in diese Stadt verlegt. Regensburg war gleichzeitig Machtzentrum des ostfränkischen Reichs, das seit 900 von König Arnulfs einzigem legitimen Sohn mit der Konradinerin Oda, Ludwig d. Kind (* 893), und seinen Beratern - Bischof Salomon von Konstanz und Erzbischof Hatto von Mainz regiert wurde. Oda war die Tante des späteren Königs Konrad I. Zuletzt begegnet der Markgraf im Jahre 907. Er hatte einen Offensivangriff gegen die Ungarn gewagt, in der Schlacht von Preßburg verloren und sein Leben gelassen.

Die Kinder der Kunigunde 
Aus der Ehe von Kunigunde und ihrem ersten Ehemann Luitpold gingen zumindest zwei Söhne hervor:
- der älteste Sohn und Erbe: Arnulf, * um 889 - wohl benannt nach Kaiser Arnulf († 899). Wird Herzog und König von Bayern und schließt mit den Ungarn Verträge ab.
- der zweite Sohn: Berthold, * um 900 - wohl benannte nach seinem Großvater, dem alamannischen Pfalzgrafen. Wird später zeitweise Herzog von Bayern.

Die Witwe Kunigunde von 907-913/14
Kunigundes Sohn Arnulf I., von Kirchenvertretern „der Böse“ genannt († 14. Juli 937 in Regensburg) war direkt nach dem Tod des Vaters 907 zum Herzog und König von Bayern ernannt worden. Der Königstitel rührte von dem Karolinger Ludwig d. Kind her. Über Kunigunde selbst erfährt man für die Zeit nach dem Tod ihres Mannes 907 und der 2. Heirat um 913/14  nichts. Da es keine Auto- oder Biographie der Königin gab, kann man jetzt nur nach den Rahmenbedingungen suchen, in denen sich die Witwe Kunigunde bewegen konnte.

Rechtliche Rahmenbedingungen der Kunigunde
Den rechtlichen Rahmen, in dem sich Kunigunde bewegte, erfährt man aus einer Gesetzessammlung der Alamannen - die Lex Alamannorum.  Die schriftliche Fixierung der Stammesgesetze entstand im 7. und 8. Jahrhundert. Diese Gesetzessammlungen wurden dazu angelegt, die Verfolgung von Straftaten in Form von Fehden einzudämmen und durch allgemein anerkannte Regelungen mit Strafen und Strafzahlungen zu ersetzen. Auf diese Weise sollten ein besseres Zusammenleben und v.a. viele Verstümmelungen nach dem Motto ‘Auge um Auge’, die schwere wirtschaftliche und gesellschaftliche Nachteile nach sich zogen, vermieden und auch gleichzeitig der Schutz von schwächeren Gliedern in der Gesellschaft - die Kirche, Frauen, Kinder etc. -  gewährleistet werden.
Stammesgesetze gab es für die Sachsen, die Bayern und für die Alamannen - die sogenannte Lex Alamannorum. Ihr Geltungsbereich erstreckte sich auf das Stammesmitglied, d.h. auf die Person, egal wo sie sich befand. Ein Stammesmitglied wurde immer nach seiner Herkunft verurteilt. Das bedeutet nun für Königin Kunigunde: Sie war eine gebürtige Alamannin und wurde daher nach diesem Recht beschützt und - hätte sie ein Verbrechen begangen - verurteilt.
Was sagt uns nun dieses Recht über Frauen??
    - es befasst sich mit Frauen, die rechtlich ‘frei’ sind, d.h. rechtlich unabhängig (Adel), dann von Frauen, die im Dienst eines Herzogs stehen, bis hin zur einfachen Türmagd.
    - es befasst sich mit unverheirateten und verheirateten Frauen
    - es befasst sich mit reisenden Frauen
    - es befasst sich mit Gewalt gegen Frauen
    - es befasst sich mit dem Erbrecht der Frauen.
Aus diesen Bestimmungen und dem mündlich tradierten Gewohnheitsrecht heraus, die im Laufe der Zeit immer weiter verfeinert werden, ergibt sich folgendes Bild: Frauen standen zunächst unter dem Schutz ihrer eigenen Familie, d.h. Vater und Brüdern. Diese Männer übergaben sie bei ihrer Heirat aus dem Schutz der Familie in den Schutz der Familie ihres Mannes. Die Ehe wurde als geschäftliche, legale Verbindung betrachtet - meistens zur Zusammenführung von Geld, Grund und Boden, beim Adel vor allem Herrschaftsgebiete und politische Beziehungen. Zu ihrer Versorgung erhält eine Frau bei der Eheschließung eine Ausstattung durch ihre väterliche Familie, die mit dem gleichen Wert von der Familie des Ehemanns ergänzt wurde. Auf diese Weise wollte man die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frau erreichen, wobei der Ehemann die Finanzen seiner Frau kontrollierte.
Eine Frau war bis etwa ins 12. /13. Jahrhundert genauso erbberechtigt, wie ihre Brüder. Dies hatte jedoch den Nachteil, dass eine ursprünglich beträchtliche Erbmasse innerhalb weniger Generationen zerstückelt wurde, in Adelsfamilien führte dies zu massivem Machtverlust einer einzigen Familie - man könnte dies jedoch auch positiv als ständigen Wandel in Besitzstrukturen auffassen. Dennoch überwog im Laufe der Zeit ie negative Sichtweise. Dies führte dazu, dass Frauen aus dem väterlichen Erbe ausgeschlossen wurden und statt dessen die eheliche Versorgung stärker anstieg.
Während der Ehe wurde das Erbe der Frau vom Ehemann und dessen Familie verwaltet. Die neue Familie musste jedoch dabei das Ziel des Erhalts oder im Idealfall sogar der Vermehrung verfolgen - unter den strengen Augen der Familie der Frau.
Falls der Ehemann einer Frau verstarb, sie also Witwe wurde, fiel sie aus dem Schutz der Familie des Ehemanns. Sie stand aber auch nicht mehr unter dem Schutz ihrer väterlichen Familie. Sie war also schutzlos (negativ gesehen), d.h. aber auch gleichzeitig eigenständig (positiv gesehen)! Solange sie eigenständig war, konnte sie nun ihr eigenes Vermögen - väterliches Erbe und Erbe ihres Mannes - eigenständig verwalten, mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten. Hatte sie Kinder, v.a. Söhne, so verwaltete sie zusätzlich deren väterliches Erbe bis zu deren Volljährigkeit. Sollte sie sich jedoch für eine neue Ehe entscheiden, begab sie sich wieder unter dem Schutz - und die Entscheidungen eines Mannes - wie zuvor. 
Was am meisten verblüfft, ist die Tatsache, dass viele Gesetze, die das Leben von Frauen in Deutschland bis in die 1960er Jahre bestimmten, sich aus diesen alten Stammesgesetzen ableiteten.

Im Vorfeld von Kunigundes 2. Ehe
Nachdem wir nun den allgemeinen rechtlichen Rahmen zusammengestellt haben, gilt es nun, diesen Rahmen in Beziehung zum persönlichen Umfeld der Königin Kunigunde zu setzen.
Seit der Mitte des 8. Jahrhundert beherrschten die Karolinger Mitteleuropa. Das bekannteste Mitglied dieser Familie war der im Jahre 800 zum Kaiser gekrönte Karl d. Große. Seine Nachfahren traten sein Erbe an. Sie teilten unter sich das Reich ihres Vaters auf. Im Vertrag von Verdun im Jahre 843 erhielt Karls Enkel Ludwig der Deutsche das Ostreich, das Kerngebiet des späteren Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen.
Die Nachfolger von Ludwig dem Deutschen waren Ludwig III., Karl III. - genannt der Dicke, Arnulf von Kärnten und schließlich Ludwig das Kind. Ludwig verstarb im September 911 im Alter von 18 Jahren. Mit seinem Tod im September 911 endete das karolingische Zeitalter in Deutschland. Damit entstand ein Machtvakuum, das gefüllt werden musste.

Zwischen der Mitte des 8. Jahrhunderts und zu Beginn des 10. Jahrhunderts hatten die Karolinger die alten Stammesherzogtümer Alamannien und Bayern zertrümmert und dort selbst die Macht übernommen. Die ursprünglich Herrschaftsträger im Herzogtum Alamannien waren der Herzog und seine Verwalter, die Grafen, gewesen. Im Verlauf der Karolingerepoche gab es immer wieder Epochen, in denen in diesem Herzogtum kein eigener Herzog amtierte, sondern die Herzogswürde von den Königen selbst wahrgenommen wurde. Sie vereinten damit Königs- und Herzogsgut in einer Hand und erhielten auf diese Weise eine hohe Machtkonzentration. Doch waren die karolingischen Herrscher nicht ständig im Herzogtum Alamannien anwesend. Daher überließen sie in einem solchen Zeitraum die Verwaltung ihren loyalen Pfalzgrafen. Diese Erkenntnis führt nun dazu, dass man den Vater der Kunigunde als den Karolingern loyal ergebenen Verwaltungsbeamten einschätzen darf.
Für diejenigen Politiker, die nun eine Zersplitterung des ostfränkischen Reiches vermeiden wollten, erhob sich die Frage, wer - d.h. welche Familie in die Fußstapfen der Karolinger treten sollte. Für diejenigen Adelsfamilien hingegen, die selbst Ambitionen zur Macht hatten, stand die Frage nach der Sicherung eines Teils der karolingischen Macht im Vordergrund.
Die um die Erhaltung des karolingischen Ostreiches bedachten Männer wählten den Herzog von Franken, Konrad I., zum Nachfolger von Ludwig d. Kind. Konrad war ein Cousin von Ludwig d. Kind gewesen, dessen Mutter Oda die Schwester von Konrads Vaters gewesen war. Seine wichtigste Stütze waren Erzbischof Hatto von Mainz - seine Diözese lag im Herzogtum von Konrad - und der Konstanzer Bischof Salomon.
Da gab es aber auch noch andere Verwandte, die eine ähnlich enge verwandtschaftliche Verbindung zu den Karolingern nachweisen konnten. Schließlich war der bayerische Markgraf Luitpold ebenfalls über seine Mutter mit den Karolingern verwandt und im Gegensatz zu Konrad vom Karolinger-Kaiser herausragend gefördert worden. Nach dem Tod des Markgrafen im Jahre 907 bei Pressburg wurde sein Sohn Arnulf sofort von den bayerischen Adeligen zu deren Herzog ausgerufen. Er sicherte die Kontinuität im Kampf gegen die Ungarn. Arnulf konnte problemlos die gesamte Machtfülle seinen Vaters - Markgraf in Karantanien, Graf im bayerischen Nord- und Donaugau - übernehmen und an seine Arbeit anknüpfen. Der eigentliche Machtwechsel in Bayern und Karantanien hatte sich also bereits im Jahre 907 vollzogen und gefestigt, Herzog Arnulf war beim Tod des letzten Karolingers bereits eine feste politische Größe. Nach dem Tod von Ludwig dem Kind wird er sogar als bayerischer König bezeichnet.
Warum also sollte ausgerechnet nur die Familie von König Konrad den großen Kuchen der Macht für sich allein erhalten, und die anderen nicht? Wie Herzog Konrad von Franken war wahrscheinlich auch die Familie der Königin Kunigunde wiederum über die Mutter mit dem alten Kaisergeschlecht verbunden und eine feste Größe in der Verwaltung des Herzogtums Alamannien. Es verwundert daher kaum, dass Kunigundes Brüder den Versuch zur Wiederherstellung des alten Stammesherzogtums wagten.
Starke Herzogtümer im Süden und Südosten des Ostfrankenreiches waren aufgrund der regelmäßig wiederkehrenden Ungarneinfälle dringend nötig. Die Ungarn fielen nicht nur in Bayern ein, sie rückten auch in den alamannischen Raum auf ihren verheerenden Beutezügen vor. Diese Gefahr wurde erst 955 bei der Schlacht auf dem Lechfeld südlich von Augsburg für das alamannische Herzogtum gebannt.

Die Entwicklung im Herzogtum Alamannien
In Alamannien vollzog sich die Entwicklung auf andere Art und Weise als in Bayern. Hier gab es zwar dieselben Versuche, das Stammesherzogtum gegen das Interesse der Zentralmacht wieder einzurichten, jedoch gab es keine Einigkeit unter den Adeligen. Der 1. Versuch einer Familie mit den Leitnamen Burchard scheiterte, dann traten die Brüder von Kunigunde in den Ring.
Die Auseinandersetzungen zwischen Kunigundes Bruder Erchanger und König Konrad führten dann tatsächlich im Herbst 913 zu einem Friedensschluss  - Teil des Friedensschlusses war die Heirat zwischen Konrad und Kunigunde. Zeitgenössische Quellen bezeichnen sie eindeutig als ‘Friedenspfand’. 
Dann verkalkulierte sich Erchanger. Er nahm den Konstanzer Bischof Salomon, einen Vertreter der königlichen Interessen fest. König Konrad verhaftete darauf hin seinen Schwager Erchanger und schickte ihn in die Verbannung. In den Wirren der einsetzenden Kriege ab 914 - der junge Burkhard gegen den König, dann der Sachsenherzog in Franken gegen den König, Rückkehr von Erchanger und Zweckbündnis mit Burkhard gegen den König. Ende der Auseinandersetzungen 916 bei der Synode von Hohenaltheim, wo sich der König zunächst durchsetzte.

Die Schenkung der Königin Kunigunde im Jahre 915 - Der Fronhof Gingen/Fils
Vor dem Hintergrund dieses Bürgerkrieges muss man nun die Schenkung der Kunigunde an das Kloster Lorsch betrachten. Als wieder verheiratete Frau stand sie unter dem Schutz und der Vormundschaft ihres Mannes. Es ist nicht bekannt, ob sie sich ständig in seiner Nähe aufhielt, also auch mit ihm in die einzelnen Schlachten des Bürgerkrieges zwischen 913 und 917 zog, oder ob sie im Familiensitz ihres Mannes, der Weilburg über der Lahn, Kreis Limburg a.d. Lahn in Mittelhessen, verblieb, der zeitweise vom Überfall des Herzogs von Sachsen bedroht war.
Die politische Situation hatte sich im Jahre 914 jedenfalls so weit zugespitzt, dass Kunigunde sich mit der Möglichkeit eines nahen Todes beschäftigte. Dies gehörte durchaus zur Mentalität jener Zeit und zeigte sich in Stiftungen für Kirchen und Klöstern.
Kunigunde wollte sich mit ihrer Schenkung das Versprechen der Fürbitte für ihr Seelenheil durch Mönche sichern. Die Nutznießer ihrer Stiftung sollten die Mönche der Klosters Lorsch an der Bergstraße sein, das im Herrschaftsgebiet ihres Mannes und seines Förderers Erzbischof Hatto von Mainz gelegen war.
Ihre Stiftung umfasste den Fronhof Gingen, eine sich selbst versorgende Verwaltungseinheit. Gingen war deren Hauptort, hinzu kamen sechs weitere Siedlungen. Warum Kunigunde sich gerade für Gingen entschied und woher dieser Besitz stammt, lässt sich nicht mehr feststellen. Vielleicht lässt es sich auf folgende Weise erklären: Gingen könnte der östlichste Besitz der Familie der Kunigunde gewesen sein. Weil er an der Periphärie des familiären Herrschaftsbereichs lag, war er als Schenkung geeignet.
Kunigunde war aufgrund des Stammesgesetzes und des Gewohnheitsrechtes nicht in der Lage, diese Stiftung rechtlich selbstständig abzuschließen. Dafür benötigte sie die Zustimmung ihres Mannes, die sie auch erhielt - wie man aus der Abschrift der ursprünglichen Urkunde im Codex Laureshamensis ersehen kann. Theoretisch wäre es König Konrad aber durchaus möglich gewesen, die Stiftung zu verhindern.

Zusammenfassung der neuen Details zur Biographie der Königin Kunigunde
Die ursprünglichen Kenntnisse zur Biographie von Königin Kunigunde beschränkten sich auf zwei Punkte - das Wissen um ihre Schenkung aus dem Jahre 915 an das Kloster Lorsch, die sie als Ehefrau des ersten ostfränkischen Königs nach der Karolingerzeit tätigte.
Durch intensive Recherchen konnten aber jetzt noch eine ganze Reihe neuer Daten gesammelt und zu einer ersten Biographie zusammengefasst werden.
  • Kunigunde wurde wohl um 872 geboren (Methodik: Alters- und Lebensabschnitte von Frauen im Mittelalter)
  • Ihr Vater war vermutlich der Pfalzgraf Berthold I., ihre Mutter möglicherweise eine Tochter des elsässischen Herzogs Erchanger und damit Schwägerin des Karolingerkönigs Karl III. dem Dicken (Methodik: Namensgebung im Mittelalter)
  • Kunigunde heiratete um 888 den aufsteigenden Markgrafen Luitpold im Herzogtum Bayern, möglicherweise der Cousin von Kaiser Arnulf aus der Karolingerfamilie. Luitpold war also möglicherweise der Onkel des Königs Ludwig d. Kind (899-911) (Methodik: Namensgebung im Mittelalter). Das Ehepaar gehörte zu den führenden und mächtigsten Adeligen im Machtzentrum Regensburg.
  • Kunigunde hatte mindestens 2 Söhne - Arnulf (geb. um 889) und Berthold.
  • im Auftrag Kaiser Arnulfs und seinem Nachfolger Ludwig d. Kind (bzw. dessen Beratern) kämpfte Markgraf Luitpold gegen die immer wieder ins ostfränkisch Reich einfallenden und plündernden Ungarn und kam 907 bei Pressburg im Kampf ums Leben. Sein Sohn Arnulf, obwohl noch recht jung, wurde sofort zum Nachfolger seines Vaters erhoben. 
  • Kunigunde war zwischen 907 und 913 Witwe. 
  • Zwischen 911 und 913 versuchten Kunigundes Brüder Erchanger und Berthold zu Herzögen von Alamannien aufzusteigen. König Konrad hingegen benötigte das Herzogtum Alamannien als weitere Machtbasis seines Königtums. Mit dem Friedensschluss ihrer Brüder Erchanger und Berthold mit dem 911 gewählten König Konrad, der der Cousin des verstorbenen Königs Ludwig d. Kind gewesen war, heiratete sie im Herbst 913 auf Druck ihrer Familie den  (chronikalische Nachrichten). Königin Kunigunde war zu diesem Zeitpunkt sicherlich eine Frau von über 40 Jahren. Der tragische Aspekt dieser Ehe: Kunigunde wurde von ihren Brüdern als Faustpfand für deren Aufstieg vom Pfalzgrafen zum Herzögen von Alamannien benutzt. Dennoch schwelte der Konflikt weiter.
  • 915 - 2. Februar: bestätigt ihr Mann Konrad die von ihr gemachte Schenkung, mit der sie die Bedingung auf regelmäßiges Gebet für ihr Seelenheil durch die Lorscher Mönche verknüpft.
  • 916 griff Kunigundes Sohn Arnulf in den Machtkampf zwischen den Brüdern der Königin und ihrem Ehemann auf der Seite seiner Onkel ein. Es kam daher in jenem Jahr zu einem Waffengang mit tiefgreifenden Folgen: Die beiden Brüder der Kunigunde wurden gefangen gesetzt, in der Synode von Hohenaltheim zur Klosterhaft verurteilt und schließlich 917 auf Betreiben von Bischof Salomon von Konstanz zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ihr verbündetert Neffe Arnulf musste aus seinem Herzogtum zu den Ungarn fliehen, die er in diplomatischen Verhandlungen von weiteren Überfällen hatte abbringen können. Im Kampf wurde König Konrad so schwer verletzt, dass er sich auf seinen hessischen Stammsitz Weilburg zurückzog, wo er an den Folgen der Verletzungen im Jahre 918 verstarb. Nach seinem Tod konnte Arnulf wieder in sein Stammesherzogtum zurückkehren. In der Folge wurde es zu einem Sonderkönigtum erhoben.  
  • Kunigundes Mann Konrad verstarb im Jahre 918 auf seinem Stammsitz, der Weilburg über der Lahn und wurde dann im Benediktinerkloster Fulda beigesetzt. 
  • Königin Kunigunde wurde also zum zweiten Mal Witwe. Wie, wo und unter welchen Umständen sie ihre letzten Jahre verbrachte, ist unbekannt.
  • Kunigundes Sohn Arnulf hatte insgesamt acht Kinder. Mindestens zwei von ihnen wurden noch zu ihren Lebzeiten geboren: Eberhard (* um 912, † um 940), 937–938 Herzog von Bayern sowie Arnulf (* um 913, † 22. Juli 954), Pfalzgraf von Bayern 
  • Ihre letzte Ruhestätte fand sie - von ihr geplant - in der Karolingischen Gruftkapelle in der Lorscher Klosterkirche.
Quellen und Literatur
https://de.wikipedia.org/wiki/Konrad_I._(Ostfrankenreich)#Herkunft_und_Familie
https://de.wikipedia.org/wiki/Luitpold_(Karantanien_und_Oberpannonien)
Clausdieter Schott, Lex Alamannorum. Das Gesetz der Alamannen, Text - Übersetzung - Kommentar, Augsburg 1993
Von Trauchburg, Gabriele, 1100 Jahre Gingen an der Fils - Festschrift, Gingen 2015  
    © GvT

Mittwoch, 6. März 2019

Geschichte(n) von Gingen/Fils - Teil 1.2: Die erste namentlich benannte Frau auf Gingener Gemarkung: Claudia Messorina

© Gabriele von Trauchburg





Die erste namentlich benannte Frau auf Gingener Gemarkung: Claudia Messorina
Gingen darf sich mit einem ganz besonderen Titel schmücken. Auf unserer Gemarkung lebte die erste namentlich genannte Frau im Landkreis Göppingen und weit darüber hinaus. Ihr Name lautete: Claudia Messorina.
Schon in meiner Grundschulzeit lernte ich im Heimatkundeunterricht erste Fakten über diese geheimnisvolle Unbekannte. Mit meinem heutigen Wissen, sollte es dann doch möglich sein, noch weit mehr Informationen über diese Frau zusammenzutragen.

Die Entdeckung ihres Namens
Woher kennt man den Namen dieser Frau? 1912 fand man auf der damals noch unbebauten Flur 'Ob der schmalen Gasse' beim Kiesabbau in zwei Meter Tiefe 2 Votivaltäre aus Sandstein. Ein 52 cm hoher Altar ist dem Gott des Handels und Gewerbes - Merkur - geweiht. Und dort steht auf lateinisch: Claudia Messorina hat dem Merkur aufgrund eines Gelübdes den Altar aufstellen lassen. Sie hat es froh und freudig nach Gebühr eingelöst.
Weihestein der Claudia Mesorina. Oberste Reihe: Mercuri..  3. Reihe: ...sorina, 4. Reihe: Ex voto - © GvT

Ebenfalls auf Claudia Messorina geht der 2. Votivaltar zurück. Dieser ist dem Kriegsgott Mars und der Siegesgöttin Viktoria geweiht: Claudia Messorina hat dem Mars und der Viktoria gemäß ihrem Gelübde einen Altar aufstellen lassen. Sie hat es froh und freudig nach Gebühr eingelöst. Schon zwei Jahre zuvor hatte man im gleichen Areal eine Merkurstatue gefunden und 1927 in unmittelbarer Nähe ein Relief, das vermutlich eine Gottheit dargestellt hatte.
Aus der Forschung weiß man, dass derartige Votivsteine ursprünglich alle einmal im Heiligtum einer römischen Villa rustica (ländliche Gutshof) standen ( vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%B6mischer_Gutshof_von_B%C3%BC%C3%9Flingen). Damit haben wir zumindest schon einmal die ersten biographischen Daten.

Erste bekannte biographische Daten 
  • Der Name unserer Unbekannten ist in einem Weihestein mit lateinischer Inschrift eingraviert.
  • Sie war also jemand, der herrschaftlich zum römischen Reich gehörte. Wir müssen uns also mit der römischen Geschichte in unserer Region befassen.
  • Leider fehlen Geburts- und Sterbejahr, nicht einmal ihr Alter kennen wir. 
  • Sie hat auch nicht aufgeschrieben, aus welcher Region sie stammte.
Jetzt heißt es sämtliche Methoden der Archäologie und der Alten Geschichte anzuwenden, um noch mehr über diese Frau herauszufinden.

Römerzeit in Gingen und Umgebung
Zuerst einmal sollte es uns gelingen, den groben Zeitrahmen in dem wir uns bewegen, abzustecken. Im Jahre 15 v. Chr. hatten die Römer das Alpenvorland bis an die Donau erobert. Strategische Gründe führten dazu, dass die Römer ab 74 n. Christus mit der Eroberung der Alb in Richtung Norden begannen und 100 n. Chr. den Odenwald-Neckar-Limes (der jetzt zum Weltkultur-Erbe gehört) ausgebaut hatten.
Mit dem Niedergang des Odenwald-Neckar-Limes ab 260 n. Chr. zogen sich die Römer wieder auf das südliche Ufer der Donau zurück, wo der  Rhein-Iller-Donau-Limes ab ca. 290 n. Chr. Bestand hatten. In unsere Region drangen damals die Alamannen vor. Das heißt nun für Claudia Messorina, dass sie irgendwann im Zeitraum zwischen 74 und 290 nach Christus in unserer Umgebung lebte. 

Der Wohnort der Claudia Messorina - eine Villa rustica

Votivaltäre in der Form der beiden von Claudia Messorina (s.o.) wurden bevorzugt in den Heiligtümern einer Villa rustica - eines Gutshofes - aufgestellt (vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%B6mischer_Gutshof_von_B%C3%BC%C3%9Flingen).
Einen solchen römischen Gutshof scheint es im Bereich der heutigen Schillerstraße gegeben zu haben, wo es ja auch noch die Stichstraße ‘Grube’ - Hinweis auf die ehemalige Kiesgrube - gibt. Doch was ist eine ‘Villa rustica’?
Die Entstehung der römischen Gutshöfe geht auf das römische Militärwesen zurück. Die Heerführer erkannten schnell, dass man verdienten Soldaten eine Perspektive geben musste. Nach jahrelangen Diensten im Heer sollten sie einen Gutshof zu ihrer Versorgung erhalten. Die ältesten dieser Gutshöfe entstanden in der Umgebung von Rom.
Später nutzte man die Politik der Gutshöfe zur gezielten Ansiedlung verdienter Soldaten in neu eroberten Gebieten. Die meisten Hofareale waren von einer Mauer umgeben. Kleine Badeanlagen mit Warm- und Kaltwasserbecken sowie Fuß- und Wandheizungen gehörten zum Standard. In der Region gefundene Bruchstücke von Wein- und Ölamphoren zeigen auf regen Austausch mit dem Mutterland hin und belegen, dass die Eroberer durchaus luxuriös lebten. 
Auf den Höfen bauten oftmals Slaven Getreide an und hielten Vieh. Die daraus hergestellten Produkte dienten als Waren für römische Kastelle - z.B. in Salach - oder direkt am Limes. Zu deren Transport wurde Geschirr benötigt, hergestellt in Kalkbrennöfen, Töpfereien und Ziegeleien.
Die Gingener Villa Rustica hatte vielleicht noch ein weiteres Standbein. Wir erinnern uns, dass  im letzten Jahr der Kreisarchäologe Dr. Rademacher am Ufer des Binsenbachs Überreste von Metallverarbeitung aus keltischer Zeit gefunden hat. Ich kenne zwar noch nicht die Datierung der gemachten Funde, aber aus der Römischen Geschichte ist mir durchaus bekannt, dass die Römer größtes Interesse an der Metallverarbeitung besaßen. Lag darin auch das Interesse eines römischen Gutsbesitzers?

Stellung der Claudia Messorina innerhalb der Villa Rustica
Haben Sie es gemerkt? Bisher ist nur vom Gutsbesitzer und seinen Sklaven die Rede. Aber wo waren die Frauen? Ich habe gerade erwähnt, dass diese Art von Votivsteine überwiegend im Heiligtum eines Guthofes aufgestellt wurden. Die Herstellung derartiger Steine war nicht ganz billig. Man darf deshalb davon ausgehen, dass die Stifterin die Ehefrau des Gutshofsbesitzers gewesen war. 
Sie war offenbar eine gläubige Frau, sonst hätte sie nicht gegenüber drei verschiedenen Gottheiten Gelübde abgelegt: Merkur = Schutzgott der Händler. Die zweite Stiftung bezog sich auf den Kriegsgott Mars und die Siegesgöttin Viktoria. Man darf darin die Hoffnung um Beistand im Krieg und die Freude über einen militärischen Sieg lesen. Möglicherweise deuten beide Votivsteine darauf hin, dass Claudia Messorina in einer Zeit militärischer Auseinandersetzungen und Störungen im Handel gelebt hat. Dies könnte auf die Endzeit des römischen Anwesenheit im Filstal im 3. Jahrhundert mit den Überfällen und Plünderungen der Alamannen hindeuten. 
Dann ist da noch eine Auffälligkeit: Forscher haben durch schlichte Beobachtung der vorhandenen schriftlichen Quellen herausgefunden, dass der Nachname der Claudia - Messorina - besonders häufig im pannonischen bzw. ungarischen Raum und in Dalmatien (Mittlere Adriaküste von Kroatien) vorkommt. Sie scheint ihre familiären Wurzeln in Südosteuropa gehabt zu haben.

Die neuen biographischen Daten und Zusammenhänge bezüglich der Claudia Messorina 
Fassen wir also nun alle gewonnenen Daten zu Claudia Messorina zusammen:
  • Die erste namentlich bekannte Persönlichkeit im Landkreisoder sogar noch weit darüber hinaus heißt Claudia Messorina
  • Ursprünglich kam sie wohl aus dem ungarischen oder dalmatinischen Raum
  • Sie lebte irgendwann zwischen 74 und 290 nach Christus in Gingen, wobei die Wahrscheinlichkeit eher auf das 3. Jahrhundert hindeutet.
  • Sie war die Herrin auf einem römischen Gutshof. Bevor ihr Mann diesen Gutshof nach einer langen Karriere im römischen Heer erhalten hatte, muss sie mit ihm kreuz und quer durch das römische Reich gezogen sein, ehe sie im Filstal heimisch geworden war.
  • Am Anfang haben wir nur den Namen unserer ersten bedeutenden Frau in Gingen gekannt. Die Methode - biographische und allgemeine Kenntnisse zu verbinden, hat also im Fall der Claudia Messorina zu weiteren Details über ihr bisher unbekanntes Leben geführt. 

Geschichte(n) aus Gingen/Fils - Teil 1: Seine weibliche Geschichte - allgemeines zum Thema

© Gabriele von Trauchburg,
Vortrag in der VHS Gingen/Fils, 28.2.2019


Am 19. Januar 1919 – fand mit der Wahl der Deutschen Nationalversammlung die erste reichsweite deutsche Wahl statt, bei der Frauen das aktive und passive Wahlrecht besaßen. Dieses Jubiläum war Ausgangspunkt bei der Planung für diesen Vortrag. Die erste Frage war, gab es denn irgendwelche Informationen zum Wahlrecht oder zur 1. Wahl mit Frauenbeteiligung für den Ort Gingen an der Fils? Antwort: Nein.
Da es in diesem Zusammenhang um weibliche Geschichte geht, wurden die Leitung der Gingener VHS und ich uns schnell einig, die weibliche Seite der Gingener Geschichte als Grundlage für diesen Vortrag zu wählen.
Man mag sich nun fragen, ob es sich denn lohnen kann, weibliche Geschichte in Gingen zu entdecken? Gingen war nie ein sogenannter Hotspot, wo das Leben pulsierte. Im 11. Jahrhundert gab es hier gerade einmal 12 Höfe mit vielleicht durchschnittlich je 30 Bewohnern! Um 1790 lebten hier schon immerhin 1300 Menschen. Und heute: knapp 4500. Wie sagt die Schwäbin in solch einem Fall? Gucka mr amol!

Frauengeschichte: Überlegungen zur Vorgehensweise
Welche Zutaten brauchen wir denn für einen Vortrag mit diesem Themenkomplex überhaupt? Um in die Frauengeschichte aus unterschiedlichen Jahrhunderten einzusteigen, bedarf es drei grundlegender Datenformen:
    1. Namen und - soweit vorhanden - biographische Daten von Frauen mit Einfluss auf den Ort 
    2. Kenntnisse über das persönliche Umfeld, in das die Frauen eingebettet waren
    3. die juristischen Grundlagen, in denen die Frauen agieren konnten.
Zum Glücke stieß ich bei der großen Masse an historischen Daten, die ich im Rahmen des 1100jährigen Jubiläums von Gingen im Jahre 2015 zusammentrug, auch tatsächlich auf ein paar höchst interessante Frauen, die ich dann in den Jubiläumsband mit einbezog. Eine umfängliche Betrachtung jeder einzelnen 
Heute nun möchte ich diese Frauen herausgreifen und intensiver betrachten. Sie lebten irgendwann zwischen dem 1. Jh n. Chr. und dem 20. Jahrhundert - wir tauchen also in eine Zeitspanne von nahezu 2000 Jahren ein.

Montag, 18. Februar 2019

Der Donzdorfer Kapellenweg - Teil 12 - Grundlegende Erkenntnisse aus der Kulturgeschichte der Donzdorfer Kapellen

© Gabriele von Trauchburg


Die vorangegangene Studie zur Kulturgeschichte der Kapellen entlang des Donzdorfer Kapellenwegs entwickelte sich im Laufe der einzelnen Untersuchungen zu einem spannenden Projekt voll unvorhersehbarer, neu zu entdeckender Aspekte. 
Die kulturgeschichtliche Untersuchung einer Gruppe von Kapellen ist bisher einzigartig. Dies ist kein Wunder, denn der Großteil der schriftlichen Unterlagen wurde in der Vergangenheit als nutzlos erachtet und deshalb entsorgt. Es ist schon ein großer Glücksfall, dass die Heiligenrechnungen der alten Kapellen Hürbelsbach, Unterweckerstell und Grünbach als serielle schriftliche Quellen noch immer im Gräflich Rechbergschen Familienarchiv Donzdorf  gelagert werden. Nur deshalb war es möglich, die finanziellen Grundlagen der Kapellenverwaltung aufzugliedern und völlig überraschende Erkenntnisse daraus zu ziehen.
Die kunsthistorische Entwicklung der Kapellengebäude ist von ständigem Wandel geprägt, denkmalschützerische Gedanken gab es in vergangenen Jahrhunderten nicht. Aus diesem Grunde achtete man in den unterschiedlichsten Kunstepochen weniger auf den Erhalt alter Ausstattung. Statt dessen wurde die Gestaltung der einzelnen Kapellen eher als eine ständige Weiterentwicklung empfunden.
Gerade die erstmalige gemeinsame Aufarbeitung von Geschichte und Kunstgeschichte eröffnete völlig neue Erkenntnisse: die lokale mittelalterliche Herrschafts- und Patronatsgeschichte wurde erweitert und zum Teil korrigiert (s. Hürbelsbach, Unterweckerstell und die zweigeteilte Residenz Donzdorf). Die Auswirkungen des 30jährigen Krieges konnten am Beispiel von einem Malter Hafer regional greifbar gemacht werden. Erstmals in größerem Umfang gelang der Nachweis, dass Kapellenverwaltungen als Kreditinstitute für die ländliche Bevölkerung bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts fungierten. Zugleich waren Kapellen auch Kreditinstitute für benachbarte kirchliche Gebäude. Auf diese Weise wurde eine erstaunlich hochwertige Ausstattung der Pfarreien mit barocken Pfarrhöfen oder Ausstattungen von Kirchen beispielsweise mit Orgeln finanziert.
Zudem konnte eine Reihe von Neuentdeckungen im Bereich der Kunstgeschichte gemacht werden. Im Zentrum steht dabei der Hürbelsbacher Altar, dessen Aufbau und seine Bedeutung sowie sein Stifter. Zudem war es möglich, zwei Altarflügel der Unterweckersteller Kapelle zuzuordnen. Außerdem wurde ein Rekonstruktionsversuch der Chormalereien von Unterweckerstell vorgenommen.
Ein Schwerpunkt der Untersuchungen war, die Offenlegung der Verbindung zwischen Stiftern und ihren Stiftungen, ein Untersuchungsfeld, das im regionalen Umfeld noch nie vorgenommen wurde. Gleiches gilt für die  Offenlegung der Verbindungen zwischen groß- und kleinräumigen historischen Ereignissen und deren Auswirkungen auf die Kapellen im allgemeinen.
Gleichzeitig hat sich ein neues Arbeitsfeld aufgetan: In den vergangenen fünf Jahren konnte ich immer wieder Hinweise auf die Existenz einer bayerischen Kunstexklave im Umfang der ehemaligen Rechbergischen Herrschaften entdecken. Diese entstand spätestens mit dem Bau der Wallfahrtkirche Hohenrechberg. Sie entwickelte sich in der Folgezeit weiter: mit der Bernhardus-Wallfahrtskirche, der Mariensäule vor der Stadtpfarrkirche Weißenstein, mit dem Gemälde im Hochaltar der Stadtpfarrkirche, der Nenninger Pietà, mit den Nazarener-Gemälden und -Wandmalereien in Donzdorf und Unterweckerstell sowie den neogotischen Skulpturen von Anselm Sickinger.  Finanziert werden konnte sie nur durch die Stiftungen der gräflichen Familie Rechberg und durch die Finanzen der Kapellen am Donzdorfer Kapellenweg. Man darf gespannt sein, welche Ergebnisse diese ersten Erkenntnisse noch nach sich ziehen werden.

Der Donzdorfer Kapellenweg - Teil 9.5: Lauterstein-Nenningen - Weltkunst am Fuße der Alb - Die Nenninger Pietà

© Gabriele von Trauchburg



Die Nenninger Pietà entstand direkt nach der Überwindung einer großen Hungersnot und in deren Folge mit vielen Toten. Diese Figurengruppe, die großes Leid widerspiegelt und gleichzeitig aufzeigt, dass selbst die zentralen christlichen Figuren schweres Leid ertragen und überwinden konnten, spendet dem Betrachter Trost und Hoffnung. 

Pieta oder Vesperbild

Der italienische Fachbegriff ‚Pietà’ bedeutet übersetzt ‚Mitleid,  Frömmigkeit’. In der bildenden Kunst versteht man darunter die Darstellung Mariens als Mater Dolorosa (Schmerzensmutter) mit dem Leichnam des gerade vom Kreuz abgenommenen Jesus Christus.
Neben dem aus der italienischen Sprache abgeleiteten Fachbegriff wird auch oft die deutsche Bezeichnung Vesperbild verwendet. Bei der Zuordnung der Horen (Stunden im Stundengebet) des Breviers zu bestimmten Stationen der Passion Christi wurde die Kreuzesabnahme der abendlichen Vesper zugeordnet. So kam es für die Darstellung des Moments nach der Kreuzesabnahme zur Bezeichnung ‚Vesperbild’.


Pietà-Darstellungen im Laufe der Geschichte

Seit dem 14. Jahrhundert setzten sich zahlreiche berühmte Künstler mit diesem Thema auseinander. Das 14. Jahrhundert war in seinem gesamten Verlauf von sehr viel Leid geprägt: Zwischen 1315 und 1317 litt das nördliche Europa unter der ‘Großen Hungersnot’.
Eybacher Pietà, um 1320 - © GvT
Ab den 1330er Jahren bis 1347 wurde wegen der Auseinandersetzungen zwischen dem Papst und Kaiser Ludwig dem Bayern der Gottesdienst in den Regionen seiner Anhänger verboten. Die frühen Pietà-Skulpturen lassen sich somit als Beleg für die politische Zugehörigkeit zum kaiserlichen Lager in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts anführen.
Kaum war der umstrittene Kaiser Ludwig d. Bayer 1347 verstorben, wurde Europa zwei Jahre später von der ersten Pestepidemie heimgesucht. Wenige Jahre später kam es zu einem erneuten Ausbruch dieser Seuche. Wieder wurden die Kirchen geschlossen. Damit die Bevölkerung dennoch ihren Glauben leben konnte, wurden besondere Schwerpunkt für die tägliche Verehrung geschaffen: die Pietà-Gruppe oder die Nothelfer (vgl. Teil 6.3.).  
Gerade das Bild von der Muttergottes, die ihren sterbenden Sohn im Arm hält, spricht Menschen in allen Schichten und jeden Alters an. Man kann sich damit identifizieren und am Ende Trost aus dem Wissen schöpfen, dass selbst Maria nicht vor schmerzhaften Lebenslagen gefeit gewesen war.
Es ist daher kein Wunder, dass sich selbst die wichtigsten Künstler in der Vergangenheit bis in die Gegenwart mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben, darunter Michelangelo Buonarroti, Giovanni Bellini und Vincent van Gogh. 

Die Nenninger Pietà

Unwillkürlich fragt man sich, weshalb ausgerechnet ein bayerischer Künstler den Auftrag erhalten hatte, für ein kleines schwäbisches Dorf eine derartig monumentale Gruppe anzufertigen - gab es etwa keinen schwäbischen Bildhauer, der ein ähnliches Werk hätte schaffen können?
Bozzetto, vermutlich von der Nenninger Pietà, Bayerisches Nationalmuseum München - © GvT
Ganz offensichtlich wollte Maximilian Emanuel von Rechberg einen ihm bekannten Künstler, aus welchen Gründen auch immer. Die Pietà sollte die ansonsten schmucklose neue Kapelle ausfüllen und den Betrachter entsprechend beeindrucken. Es ist nicht bekannt, ab welchem Zeitpunkt der Kontakt zwischen Auftraggeber und Künstler begann - wahrscheinlich schon 1773, als die alte Kapelle abgerissen wurde.
Es scheint einen längeren Entscheidungsprozess bis zur endgültigen Ausführung gegeben zu haben, denn zwei Bozzetti, die zur Nenninger Pietà gehören dürften, sind überliefert - einer in Stuttgart und einer in München.
Franz Ignatz Günther schuf mit der Nenninger Pietà eine aus Lindenholz geformte Figurengruppe, deren Größe von den Aus-maßen des Chores der Kapelle bestimmt wurde. Aus diesem Grunde sind beide Figuren über-lebensgroß. Der Fass-maler, mit dem Günther hier zusammengearbeitet hat, ist nicht überliefert. Das Ergebnis der Zusammenarbeit beider Künstler ist jedoch berührend, beeindruckend, ausdrucksstark.  
Man sieht die imaginäre, nicht in der Bibel überlieferte Szene  direkt nach der Kreuzabnahme von Jesus. Man stellte sich vor, dass Christus - bevor er zu seinem Grabmal gebracht wurde - noch einmal seiner anwesenden Mutter in den Schoß gelegt worden war. In der von Günther gestalteten Szene lässt er die Muttergottes den Kopf und die linke Hand ihres Sohnes stützen. Dabei gleitet er seiner Mutter langsam aus dem Schoß, sein linkes Bein schwebt in der Luft.
Franz Ignatz Günther, Nenninger Pietà, 1774 -  © GvT
Die untröstliche Maria weint. Ihr Blick ist auf ihren gerade verstorbenen Sohn gerichtet. Ein lebengider Hauch von rosa liegt auf ihrem Gesichts. Bei Jesus Christus ist diese lebendige Hautfarbe bereits in ein für Tote typisches blau unterlaufenes weiß übergegangen. Diese besondere Farbwahl nimmt die sichtbare Gestaltung des Herabgleitens aus dem Schoß der Mutter nun im übertragenen Sinne für das Hinweggleiten vom Leben in Tod auf.
Franz Ignaz Günther hat in diese Figur all die schrecklichen Erfahrungen seiner Familie während der vorangegangenen Hungerkatastrophe in dieses Bildwerk eingebracht - mehrere seiner Kinder verstarben in dieser Zeit. Seine Frau starb, als die Nenninger Pietà an ihrem Bestimmungsort angekommen war. Kein Wunder also, dass diese Figurengruppe derart ausdrucksstark gelungen ist.
Der Künstler selbst war ebenfalls zu diesem Zeitpunkt bereits krank. Die Nenninger Pietà war sein letztes Werk, er starb nur wenige Monate nach deren Vollendung am 27. Juni 1775.

Der Weg der Pieta nach Lauterstein-Nenningen

Für das Zeitalter des Rokoko war die Feldkapelle kurz nach der Bebauung noch äußerst sparsam dekoriert. Deshalb sorgte der tiefgläubige Patronatsherr Maximilian Emanuel von Rechberg  für eine ausreichende Ausstattung, als er bei Franz Ignaz Günther in München die Pieta anfertigen ließ. Der Bildhauer erhielt 125 Gulden für seine Arbeit.
Ein Blick in die Rechnungsbücher der rechbergischen Herrschaften zeigt, dass im entsprechenden Zeitraum an keiner Stelle eine entsprechende Ausgabe vermerkt ist, ebenso gibt es keinen Brief oder eine Rechnung von Franz Ignaz Günther. Diese Beobachtung läßt nur einen einzigen Schluß zu: Maximilian Emanuel von Rechberg bezahlte die durchaus beachtliche Summe von 125 Gulden für Günther nicht aus den laufenden Betriebskosten seiner Herrschaften, sondern aus seinem Privatvermögen - von dem es keine Rechnungsbücher oder Kostenbelege gibt. 
Am 8. Dezember 1774 kam der Transport mit der Figurengruppe im Dorf an. In der Festschrift von 1871 heißt es dazu: Graf Maximilian Emanuel von Rechberg ließ auch das herrliche Vesperbild (Maria den Leichnam des Sohnes im Schoße haltend) in München fertigen. Am 8. Dezember 1774 kam das Bild hier an und wurde Herrn Ignaz Günther 125 fl dafür bezahlt.

Die kunsthistorische Bedeutung der Nenninger Pietà

Kunsthistoriker bezeichnen die Figurengruppe nicht nur als technisch, sondern auch in ihrer ausdrucksstarken Form und künstlerischen Potenz als vollendet. Sie ist die letzte der drei Pietà-Gruppen von Günther.
Dieses eindrucksvolle, überlebensgroße Kunstwerk markiert in der Bildhauerei den Endpunkt des süddeutschen Rokokos. Die Nenninger Pietà ist also nicht nur Günthers größtes Meisterwerk, sondern es markiert eine Epochengrenze in der Kunstgeschichte!!!
Der Umstand, dass es von einem bayerischen Künstler erschaffen und von einem schwäbischen Mäzen erworben wurde sowie bis heute an seinem Originalstandort verblieb, statt in einem bedeutenden Museum aufgestellt zu werden, bewirkte, dass es in der Forschung zwar bekannt, bisher aber kaum thematisiert wurde.
Bis heute wird der Wunsch des Stifters und der Erbauer der Kapelle respektiert. Zuerst eine Wegkapelle wurde sie am Beginn des 20. Jahrhunderts in eine Friedhofskapelle umgewandelt. Heute liegt die Kapelle in der Nähe einer stark befahrenen Bundesstraße - dennoch bietet sie seit rund 230 Jahren täglich den an ihr vorbeikommenden Menschen einen Ort der Besinnung und der Hoffnung für Trostsuchende sowie Raum für die Bewunderung einer einzigartigen Skulptur.

Quellen und Literatur

- GRFAD - Einschlägige Archivalien zur Pietà-Kapelle in Lauterstein- Nenninger
- Landesamt für Denkmalpflege Baden-Württemberg (Hrsg.), Dokumentation zur Untersuchung und Restaurierung der Pieta von Ignaz Günther in der Friedhofskapelle zu Nenningen, bearb. v. Anne-Kathrin Läßig, Stuttgart 2005

Mittwoch, 13. Februar 2019

Der Donzdorfer Kapellenweg - Teil 9.4: Franz Ignaz Günther, Bildhauer der Nenninger Pietà

© Gabriele von Trauchburg


Franz Ignaz Günther (1725-1775) entstammt einer Familie, die schon mindestens zwei Generationen vorher sich kunsthandwerklich betätigte. Seine ersten Erfahrungen in der Bildhauerei sammelte Günther in der väterlichen Schreinerei im Markt Altmannstein (Lkr. Eichstätt) in der bayerischen Hofmark Hexenagger.

München
Im Alter von 19 Jahren erhielt er die große Chance, bei dem renommierten und hochangesehenen Münchner Bildhauer, Johann Baptist Straub, seine Ausbildung fortzusetzen.
Johann Baptist Straub ist für unsere Region kein Unbekannter. Straub kommt aus bayerischen Herrschaft Wiesensteig. Er selbst, seine Brüder und Vettern beeinflussten die Entwicklung der Barockbildhauerei im gesamten südöstlichen Raum des Kurfürstentums Bayern und der Habsburger Monarchie. Von 1743 bis 1750 war Günther Schüler von Johann Baptist Straub in München. 

Wanderschaft
Nach Abschluss der Ausbildung bei Straub begab sich Günther ab 1750 auf die von der Berufsausbildung erwarteten Wanderschaft. Sie führte ihn zunächst nach Salzburg (1750), anschließend zum Hofbildhauer Paul Egell in Mannheim (1751/52). In Mannheim gab es damals die große Baustelle des Schlosses von Pfalzgraf und Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz sowie Herzog von Jülich-Berg. Hier begegnete er den besten Künstlern und Kunsthandwerkern seiner Zeit. Und er bekam die Gelegenheit zur Mitarbeit unter Egell. 
1752 findet man dann Günther in Olmütz in Mähren. Er arbeitete dort in der Werkstatt eines lokalen Bildhauers. Als dieser verstarb beendete Günther den Auftrag für einen Altar, der dann in das nahegelegene Geppersdorf (Kopřivnà, Tschechien) ausgeliefert wurde.

Wien, Akademie
Im folgenden Jahr begab sich Günther zur weiteren theoretischen Ausbildung in die Bildhauerklasse der Akademie in Wien (1753), die er mit 'Premium' abschloss. Bereits dort zeigte sich das umfassende Talent von Franz Ignaz Günther. Obwohl er seinen Abschluss in der Bildhauerklasse machte, zeigte er ebenso große Fähigkeiten beim Zeichnen. Er war also in der Lage, ein Werk vom Zeichenentwurf bis zum Abschluss der
Bildhauerarbeiten zu gestalten. Doch mit dem Abschluss der Arbeiten am Holz war für Günther die Arbeit noch lange nicht abgeschlossen. Bereits anhand seiner Entwürfe lässt sich erkennen, in welcher Form die farbige Fassung die Aussagekraft der Figur unterstützen sollte. Günther arbeitete später eng mit sogenannten Fassmalern - Maler, die die farbige Fassung eines Kunstwerkes vornahmen - zusammen und verdeutlichte dabei genau, welche Effekte er bei jedem einzelnen Werk wünschte. Deshalb spricht die Fachwelt in diesem Zusammenhang auch von der ‘Günther-Fassung’

München
Nach München kehrte Franz Ignaz Günther im Jahre 1754 zurück. Nachdem sich Bayern langsam von den Folgen des Österreichischen Erbfolgekrieges erholte, konnte er es wagen, sich selbstständig zu machen. Dazu ließ er sich vom Zunftzwang befreien und gründete seine eigene Werkstatt. Ab dieser Zeit war er hauptsächlich für kirchliche Auftraggeber tätig, schmückte mit seinen lebensgroßen Figuren aber auch die Münchner Adelspalais aus.

Hochaltar in St. Joseph, Starnberg - © GvT
Ab 1757 machte er eine gute Partie, als der Maria Magdalena Hollmayr, Tochter eines Silberhändlers aus Huglfing heiratete. Unter den Fachleuten geht man davon aus, dass ihm seine Frau bei weiblichen Figuren Modell stand, dann deren Gesichter ähneln sich stark. 
Das Paar hatte insgesamt neun Kinder hervor. 1761 erwarb die Familie ein Anwesen am Oberen Anger in München, das nur wenige hundert Meter vom Palais des Maximilian Emanuel von Rechberg entfernt lag.
Franz Ignaz Günther war schon bald nach seiner Rückkehr ein gefragter Künstler. Dies liegt daran, dass seine Figuren einen lebendigen und ausdrucksstarken Eindruck beim Betrachter hinterlassen. Diese Bildwerke gelten deshalb zurecht als Höhepunkt der Rokoko-Bildhauerei. Die Nenninger Pietà ist das letzte Werk von Franz Ignatz Günther. Sie wird deshalb in der Fachwelt als Höhe- und Endpunkt der Rokoko-Bildhauerei angesehen. Sie ist damit ein Kunstwerk, das eine Epochengrenze darstellt.

Quellen und Literatur

- Gerhard P. Woeckel, Ignaz Günther - Die Handzeichnungen des kurfürstlich bayerischen Hofbildhauers, Weißenhorn 1975
- Roger Diederen u.a. (Hrsg.), Mit Leib und Seele - Münchner Rokoko von Asam bis Günther, München 2014
- https://de.wikipedia.org/wiki/Ignaz_G%C3%BCnther
- http://www.pieta-nenningen.de/

Dienstag, 12. Februar 2019

Donzdorfer Kapellenweg - Teil 9.6: Die Nenninger Pietà - auf Ausstellungen und bei Restaurierungen

© Gabriele von Trauchburg


Wegen ihrer außerordentlichen Ausdrucksstärke fasziniert die Nenninger Pietà ihre Betrachter. Um diese Wirkung einem breiten Publikum erfahrbar zu machen, wurde sie seit den 1950er Jahren bei großen nationalen und internationalen Ausstellungen der Öffentlichkeit vorgestellt:


Nenninger Pietà mit Fassung im Stil des Historismus, Foto 1874 - © GvT
Nenninger Pietà mit purpurroter Farbprobe - © GvT
1951 - München
Für dieses Jahr hatte man in München die große Ausstellung ‘Franz Ignaz Günther’ geplant. Auch die Nenninger Pietà sollte Bestandteil dieser Ausstellung sein. Vor der Eröffnung wurde sie deshalb in München umfassend restauriert. Dabei nahm man ihre Fassung von 1855 ab.
Wie man auf dem Foto von 1874 erkennen kann, hatte der Schwäbisch Gmünder Maler Klein den Mantel der Muttergottes auf der Innenseite mit Ornamenten im Stil des Historismus dekoriert. Das Kleid der Maria war in leuchtendem Kardinalpurpurrot gestaltet (s. Foto rechts) und der Mantel in Ultramarinblau. 
Titelblatt des Katalogs von 1958
Nach der Farbabnahme kam die von Franz Ignaz Günther vorgeschriebene Originalfassung in zarten pastellartigen Farben wieder zum Vorschein. Diese Günther-Fassung konnte bis heute erhalten werden.

1951 - Stuttgart
Nach der Münchner Ausstellung zeigte das Württembergische Landesmuseum in Stuttgart ebenfalls die frisch restaurierte Pietà.

1954 - London und Paris
Dieses Jahr markiert die erste große Auslandsreise der Nenninger Pietà. Zuerst wurde sie in der National Gallery in London vorgestellt. Anschließend gastierte die Figurengruppe im Louvre in Paris.

1958 - Brüssel
Während der Weltausstellung wurde die Pietà im päpstlichen Pavillon zwischen anderen international bekannten christlichen Kunstobjekten gezeigt. Ihre Anwesenheit dort belegt der dazu erschienene Katalog.    

1960 - Anfrage aus New York
Im Jahre 1960 erreichte die Kirchengemeinde eine Ausleihanfrage aus New York. Doch der Kirchengemeinderat erteilte diesem Ansinnen einen abschlägigen Bescheid, weil das Gremium Angst um den Zustand der Figur bei einer derartig weiten Reise befürchtete. 

1981 - Bruchsal
Vom 27. Juni bis zum 25. Okt. 1981 fand im Schloss Bruchsal die Ausstellung ‘Barock in Baden-Württemberg. Vom Ende des 30jährigen Krieges bis zur französischen Revolution’ statt. Das Badische Landesmuseum Karlsruhe hatte diese Ausstellung unter der Schirmherrschaft des damaligen Ministerpräsidenten Lothar Spät organisiert.

2003-2004 - Stuttgart
In der Zeit zwischen 2003 und 2005 wurde die Pietà-Kapelle und zugleich die Nenninger Pietà einer gründlichen Renovierung bzw. Restaurierung unterzogen. Dazu kam die Nenninger Pietà in die Räume des Landesamtes für Denkmalpflege Baden-Württemberg. Im Verlauf der Arbeiten wurde die Figurengruppe intensiv untersucht. Und dabei kam erstaunliches zutage.
Erstmals wurde dabei untersucht, mit welchem Verfahren Franz Ignaz Günther die überlebensgroßen Figuren zu einem einzigen Bildwerk zusammengesetzt hatten. Mit Hilfe eines farbigen Schemas erläuterten die Restauratoren ihre Ergebnisse. Die Figurengruppe ist aus Lindenholz geschnitzt. Für das Gesamtergebnis verwendete Franz Ignaz Günther 18 verschiedene, kunstvoll miteinander verdübelte Holzblöcke (s. Schema, Landesamt f. Denkmalpflege Baden-Württemberg).
Schema - © Landesamt für Denkmalpflege Baden-Württemberg


2004-2005 - Stuttgart
Nach Abschluss der Restaurierungsarbeiten wurde die Nenninger Pietà von Oktober 2004 bis Mai 2005 im Alten Schloss in Stuttgart in der Ausstellung ‘Große Kunst im Kleinformat’ gezeigt.

2014 - Nenningen
Im Zuge der Vorbereitungen für die Ausstellung ‘Leid - Trost - Hoffnung. Marienklagen im Wandel der Zeit’ anlässlich des 240. Jubiläums der Nenninger Pietà in der Pietà-Kapelle beurteilte das Landesamt für Denkmalpflege deren Zustand. Aufgrund der Erkenntnisse von 2004 wurde beschlossen, dass die Nenninger Pietà zu wertvoll ist, um irgendwelchen zusätzlichen Belastungen ausgesetzt zu werden. Sie darf daher nicht mehr bewegt werden, keine Reise zu irgendeiner Ausstellung mehr antreten und nur noch im Kapellenraum selbst von Schmutz gereinigt und restauriert werden. 
Aus diesem Grund musste die Kirchengemeinde Nenningen schweren Herzens der Anfrage zur großen Ausstellung ‘Mit Leib und Seele - Münchner Rokoko von Asam bis Günther’ (Dez. 2014 - April 2015) ablehnen.

Quellen und Literatur

- Imago Christi, Katalog des päpstlichen Pavillions bei der Weltausstellung in Brüssel, Antwerpen 1958
- Adolf Feulner, Ignatz Günther - Der große Bildhauer des bayerischen Rokoko, Katalog, München 1951
- Gabriele von Trauchburg, Leid - Trost - Hoffnung. Marienklagen im Wandel der Zeit, Katalog, Donzdorf/Lauterstein 2014
- Gabriele von Trauchburg, Lauterstein. Weißenstein-Nenningen, Kirchenführer, Lauterstein 2015
- www.pieta-nenningen.de








Der Donzdorfer Kapellenweg - Teil 9.3: Der Stifter der Nenninger Pietà

© Gabriele von Trauchburg


Den Auftrag für die heute weltberühmte Pietà des bayerischen Hofbildhauers Franz Ignaz Günther hatte der damalige Nenninger Dorf- und Patronatsherr, Freiherr Maximilian Emanuel von Rechberg erteilt, der in München der bayerischen Kurfürstin Anna Maria Sophie als Oberhofmeister diente.


Franz Ignaz Günther, Nenninger Pietà, 1774 - © GvT

Maximilian Emanuel von Rechberg als Mäzen und Auftraggeber

Maximilian Emanuel von Rechberg, geboren 1736 in München ist der Auftraggeber und Stifter der Nenninger Pietà des Franz Ignaz Günther. Maximilian Emanuel war der Sohn von Johann Bero von Rechberg-Kellmünz-Osterberg und dessen Ehefrau Maria Theresia von Lösch-Hilgertshausen. Sein Vater war Oberst bei der bayerischen Kavallerie, seine Mutter war Obersthofmeisterin in München. Schon allein diese beiden Hinweise genügen, um zu erkennen, dass Maximilian Emanuel wohl mehr Bindungen nach Bayern hatte, als man das hier im Lautertal zunächst vermuten würde.
Die Familie lebte während des Winters in München und im Sommer in Weißenstein. Die Erklärung dafür ist einfach. Politik wurde nur von Oktober bis März oder April gemacht, im Sommer reisten die Hofmitglieder auf ihre Güter und überwachten die Arbeiten auf den Feldern - der daraus erwirtschaftete Ertrag war die notwendige Basis für das Leben im Winter am Hof.
Das Jahr 1745 war ein Schicksalsjahr für den damals 9jährigen Maximilian Emanuel. Er  verlor im gleichen Jahr seinen Vater und seinen älteren Bruder Bernhard.
Entsprechend den Familiengesetzen war nicht Maximilian Emanuel der Erbe seines Vaters, sondern sein Onkel Franz Xaver Leo, der jüngere Bruder seines Vaters. Dieser wurde nun Oberhaupt der Familie Rechberg und übernahm die Herrschaften Hohenrechberg und Weißenstein am Fuße der Schwäbischen Alb sowie Kellmünz, und Osterberg im Bereich des Illertals zwischen Ulm und Memmingen. Maximilian Emanuels Mutter, Theresia, und ihre Kinder wurden deshalb nur mit Geld abgefunden.
Doch Theresia scheint eine energische, weitsichtige und tatkräftige Frau gewesen sein. Mit der Abfindung und ihrem eigenen Vermögen erwarb sie die damals württembergische Hälfte von Donzdorf und sorgte auf diese Weise dafür, dass Maximilian Emanuel seine väterliche Heimat nicht vergaß und statt dessen sich langsam darauf vorbereiten konnte, hier als Erwachsener einmal die Herrschaft zu übernehmen.

Schloss Donzdorf - © GvT
Maximilian Emanuel wuchs überwiegend in München auf, wo er auch seine erste Ausbildung erhielt, dann studierte er Rechtswissenschaften in Ingolstadt, wo er mit Auszeichnung abschloss. Anschließend reiste er mit einem Erzieher durch Europa, studierte in Straßburg ein Semester lang Diplomatie und lernte Kunst und Kultur an den führenden Höfen in den Niederlande, Belgien und in Paris kennen. Danach bewarb er sich am Münchner Hof und auch dort bestand er die geforderte Aufnahmeprüfung.
Maximilian Emanuel war ein gutaussehender junger Mann, der auch noch über ein beträchtliches Vermögen verfügen konnte. Nach dem Tod seiner Großtante Maria Adelheid von Törring-Seefeld 1747 erhielt er das Erbe seines Großonkels Gaudenz von Rechberg. Er war also das, was man eine gute Partie nannte. Am 17. Oktober 1764 heiratete er Walburga Freifrau von Sandizell. Sie stammte aus einer ebenfalls eng mit dem Münchner Hof verbundenen Adelsfamilie.  
Der Alltag von Maximilian Emanuel von Rechberg, seiner Ehefrau Walburga und seiner Familie läßt sich gut verfolgen. Im Laufe der Jahre erblickten 15 Kinder das Licht der Welt, von denen 11 das Erwachsenenalter erreichten. Die Wintermonate verbrachte man in München. Dort arbeitete Maximilian Emanuel in verschiedenen Positionen innerhalb der Hofverwaltung. Schließlich wurde er oberster Verwalter der Kurfürstin Anna Sophie.

Herrschaftsübernahme in Weißenstein und Nenningen

Seine juristischen Kenntnisse wandte Maximilian Emanuel schon bald in seinen Herrschaften an - zuerst in der Herrschaft Donzdorf, die er seit 1764 regierte. Nach dem Tod seines Onkels Franz Xaver Leo von Rechberg im Dezember 1768 übernahm Maximilian Emanuel die Regierung der übrigen rechbergischen Herrschaften.
Ihm gehörten nun die Stammburg Hohenrechberg mit dem zugehörigen Besitz, die Weißensteiner Herrschaften, die nach dem Tod seines Vaters an den Onkel gefallen waren - also Kellmünz und Osterberg im Illertal und Weißenstein mit Nenningen, Degenfeld und Böhmenkirch im Lautertal und schließlich der 1745 zurückgekaufte halbe Teil von Donzdorf - die andere Hälfte gehörte der damals in Winzingen ansässigen Familie Bubenhofen.
Maximilian Emanuel ging seine neuen Aufgaben mit Elan an. Er organisierte die Verwaltung nach den neuesten Erkenntnissen und schuf für seine Untertanen die Möglichkeit, alte Lehen - eine Art Pacht - durch Kauf in privates Eigentum umzuwandeln. Ebenso brachte er die Handwerkerordnungen auf den neuesten Stand. Bildung war ein ganz wichtiges Thema für ihn. Zusammen mit seinem Vertrauten, dem Pfarrer und späteren Dekan Joseph Rink machte er sich daran, das Schulwesen neu zu organisieren.

Maximilian Emanuel und sein Verhältnis zur katholischen Kirche

Aufgrund der bisherigen Beschreibung der Person Maximilian Emanuel von Rechberg erkennt man keinen hinreichenden Grund, eine Pietà zu stiften. Der ergibt sich erst aus der Tatsache, dass Maximilian Emanuel von Rechberg als Herrschaftsinhaber auch die Rechte und Pflichten eines Patronatsherrn innehatte. Dabei beschäftigte sich Maximilian Emanuel mit Fragen der katholischen Kirche im allgemeinen ebenso, wie mit den Sorgen und Problemen der ihm zugehörigen Pfarreien im besonderen.
Die notwendigen Fähigkeiten besaß er als ausgebildeter Jurist beider Rechte, d.h. er hat weltliches Recht ebenso studiert, wie kirchliches. Durch seine Kenntnisse im kirchlichen Recht wurde er beispielsweise vom bayerischen Hof mehrfach beauftragt, die Wahl des Freisinger und Regensburger Bischofs zu beobachten und für den vom Hof favorisierten Kandidaten Werbung zu machen.
Privat unterhielt Maximilian Emanuel zahlreiche Kontakte zu Geistlichen - in München und in verschiedenen bayerischen Klöstern. In seiner Eigenschaft als Obersthofmeister der Kurfürstin-Witwe, d.h. er war deren oberster Verwalter, reiste er häufig mit ihr zum Augsburger Bischof Clemens Wenzeslaus von Sachsen, ihrem Bruder.

Maximilian Emanuel und seine Patronatspfarreien

Er beschäftigte sich intensiv mit den Bewerbungsschreiben der Kandidaten in seinen Pfarreien und pflegte einen engen Briefkontakt mit seinen Pfarrern. In seinen Sommerurlauben lud er sie häufig ins Donzdorfer Schloß ein oder besuchte sie in ihren Pfarrhöfen und brachte bei dieser Gelegenheit meistens eine Spende mit.
Zusammen mit seinen Pfarrern verbesserte er bzw. richtete er die Volksschulen in seinen Herrschaften ein. Er informierte sich über die neuesten Lehrmethoden und gab entsprechende Informationen an seine Pfarrer weiter. Für die besten Schüler gab es am Schuljahresende Preise.  Und die fleißigsten Schüler konnten auf Stipendien hoffen. So finanzierte er einem jungen Mann aus Weißenstein ein Medizin-Studium und die Einrichtung einer Praxis. Weiter ließ er Hebammen ausbilden. Weiterbildung in Tiermedizin wurde ebenfalls von ihm bezahlt, so dass seine Herrschaften mit fähigen Männern und Frauen ausgestattet waren.
Diejenigen Männer, die sich für eine Karriere als Priester entschieden hatten, unterstützte er ebenfalls mit Stipendien. Mehrere studierten an der bayerischen Universität Ingolstadt und berichteten regelmäßig über ihre Lernerfolge. Alles in allem war Maximilian Emanuel immer am Puls der Zeit und versuchte, die besten Voraussetzungen für seine Herrschaften zu schaffen.
Zu seinen Aufgaben als Patronatsherr gehörte auch die Baupflicht - d.h. er leistete damals seinen Beitrag zum Unterhalt derjenigen Kirchen und Pfarrhöfe, die unter seinem Patronat standen. Aus diesem Grunde finden sich zahlreiche Belege für Renovierungen von Pfarrhöfen und Kirchen im Gräflich Rechbergschen Archiv - beispielsweise für den Nenninger Pfarrhofe und die Donzdorfer Martinskirche.

Maximilian Emanuel und sein Verhältnis zur Nenninger Pfarrei

In einem Zeitraum von 90 Jahren war die Pfarrei Nenningen unbesetzt geblieben. Im Jahre 1768 traten dann die Vertreter der Bürgerschaft im Ort an Maximilian Emanuel mit der Bitte heran, erneut eine Pfarrei in Nenningen einzurichten. Maximilian Emanuel griff den Antrag auf, man begann mit dem Neubau des Pfarrhofes im Herbst 1768, und Maximilian Emanuel verabschiedete am 30. Januar 1769 in Absprache mit dem Bistum Konstanz einen Stiftungsvertrag über die Einrichtung der Pfarrei Nenningen. Anschließend präsentierte er Sebastian Kübler als neuen Pfarrer.
Nenningen ist nicht die einzige Pfarrei, die von Maximilian Emanuel gegründet wurde. Die nächste war die Pfarrei Hohenrechberg. Die Verhandlungen zu deren Gründung hatten noch unter seinem Onkel Franz Xaver Leo begonnen, doch Maximilian Emanuel brachte sie 1772 zum Abschluss. 

Maximilian Emanuel, der Kunstkenner und Mäzen

Doch wie war es dem Stifter gelungen, an den schon zu Lebzeiten renommierte Künstler Ignaz Günther heranzutreten und diesen für die Schaffung einer überlebensgroßen Pietà-Gruppe zu gewinnen? Von Maximilian Emanuel weiß man, daß er ein Kenner der damaligen - modern gesprochen - Münchner Kulturszene gewesen war. Kultur in sämtlichen Varianten und kulturelles Engagement gehörte so selbstverständlich wie Essen und Trinken zum alltäglichen Leben von Männern und Frauen, die in gehobenen gesellschaftlichen Positionen standen. Dazu zählten nicht nur Adelige, sondern auch Bürgerliche.
Für Maximilian Emanuel war die Kenntnis der Kulturszene von besonderer Bedeutung. Als Obersthofmeister der bayerischen Kurfürstin gehörte es zu seinen Aufgaben, die Kurfürstin über neue Strömungen in der Kunst und über neue Talente, die sich bei Hofe vorstellten, zu informieren.
Maximilian Emanuel profitierte von diesem Wissen auch in privater Hinsicht. Er selbst war weniger den bildenden Künsten als der Musik zugetan. Er war ein profunder Kenner der Rokokomusik und kannte namhafte Künstler persönlich. Er förderte sie beispielsweise dadurch, daß er Musikkompositionen in Auftrag gab oder sich Abschriften von Musikstücken bei den Künstlern direkt bestellte. Auf diese Weise wissen wir, daß Maximilian Emanuel Leopold Mozart und seinen Wolfgang persönlich gekannt und sein Sohn Aloys später bei Leopold Mozart in Salzburg Klavierunterricht erhalten hatte. Aber er belohnte auch weniger bekannte Musiker - seien es die durch das Lautertal fahrenden Musiker, die im Donzdorfer Schloß auftraten, oder die Musiker vor Ort.
Die beruflich wichtigen Kontakte zu Künstlern aller Kunstgattungen nutzte Maximilian Emanuel auch für seine persönlichen Zwecke, was außerdem bei Hofe gern gesehen wurde. So ließ sich beispielsweise Maximilian Emanuel und seine Frau Walburga wohl anlässlich ihrer Eheschließung von dem großen Porträtmaler am bayerischen Hof, Georges Demarée, porträtieren.
Des weiteren beauftrage Maximilian Emanuel auch für die Ausstattung seines Donzdorfer Schlosses und seines Gartens namhafte auswärtige Künstler und örtliche Kunsthandwerker. Auf diese Weise entstand im Lautertal ein differenziertes Handwerk, das sich bis heute fortsetzt. Kunst wurde damals als ein Bedürfnis betrachtet, das den Menschen zugute kam. Die Kosten dafür erachtete man nicht - wie oftmals heutzutage - als rausgeschmissenes Geld.
Für seinen Donzdorfer Garten ließ Maximilian Emanuel mehrere Entwürfe anfertigen, u.a. von dem Rokoko-Spezialisten in München, François Cuvillier d.Ä. Man vermutet zudem, dass Handwerker von Cuvillier bei der Rokoko-Ausstattung des Donzdorfer Schlosses mitgearbeitet haben. Nebenbei bemerkt: Cuvillier war der Architekt und Ausstatter des gleichnamigen Münchner Theaters, in dem Maximilian Emanuel eine eigene Loge besessen hatte und das vor kurzem nach einer langen Renovierungsphase wiedereröffnet hat.

Der Künstler Franz Ignaz Günther und die Verwandtschaft Maximilian Emanuels

Und jetzt stellen wir uns einmal folgende Situation vor: Maximilian Emanuel steht vor der Entscheidung, eine Skulptur für seine Nenninger Kapelle kaufen zu wollen. Für welchen Künstler sollte er sich entscheiden? Was würden Sie in einer derartigen Situation machen? Sie würden sich im Verwandten- und Freudeskreis umhören!
Maximilian Emanuel von Rechberg muss schon früh auf den noch sehr jungen Franz Ignaz Günther aufmerksam geworden sein. Günther war in dem Ort Altmannstein im Altmühltal aufgewachsen. Dieser Ort war der Fürstin Portia, eine Tante von Maximilian Emanuels Ehefrau Walburga, im Jahre 1731 vom damaligen Kurfürsten Karl Albrecht geschenkt worden. Als sich die herausragenden Talente des jungen Mann zeigten, vermittelte sie oder ihr Mann, Fürst Portia, die Kontakte zum damals führenden Münchner Bildhauer, Johann Baptist Straub. Dieser stammte aus der bayerischen Exklave Wiesensteig, die von der Familie Rechberg verwaltet wurde. Sowohl Straub, als auch Günther erledigten während ihrer künstlerischen Karrieren zahlreiche Aufträge für die eng miteinander verwandten Adelsfamilien Rechberg, Portia, Preysing, Törring-Seefeld und Törring-Jettenbach. Auffallend ist jedenfalls: Maximilian Emanuel hatte einen Schwager - August Joseph von Törring-Jettenbach (1728-1802), der mit einer Schwester von seiner Ehefrau Walburga verheiratet war. Dieser Schwager ließ seit 1768 die Pfarrkirche in München-Bogenhausen von zwei Künstlern - Franz Ignaz Günther und Joh. Baptist Straub - mit Skulpturen ausstatten - und war offenbar hoch zufrieden.
Wenn wir uns noch weiter umblicken, dann erfahren wir, dass einer der engsten Freunde von Maximilian Emanuel, ein Graf LaRosée, schon 1772 ein Werk bei Franz Ignaz Günther bestellt hatte. Und schließlich weiß man, daß Franz Ignaz Günther 1771-1772 zwei Grabmäler für den Reichsgrafen Johann Carl von Preysing in Ingolstadt geschaffen hatte. Und welch ein Zufall: dieser Graf Preysing war mit Maria Josepha von Rechberg, einer Cousine von Maximilian Emanuel verheiratet. Und dann ist noch etwas anderes bekannt: François Cuvillier d.Ä. hatte einen starken Einfluß auf das Schaffen und auf die Aufträge von Franz Ignaz Günther.
Es gab also genügend Fürsprecher für Franz Ignaz Günther bei Maximilian Emanuel. Zudem lag die Werkstatt von Günther nur wenige hundert Meter von Maximilian Emanuels Münchner Wohnhaus entfernt.
Aus all diesen kleinen Puzzle-Teilen ergibt sich also das Bild, dass durch die vielen direkten oder indirekten Empfehlungen und Beziehungen Maximilian Emanuel in Ignaz Günther den besten Künstler vor sein Vorhaben gefunden hat.


Montag, 11. Februar 2019

Der Donzdorfer Kapellenweg - Teil 9.2 - Neubau der Pietà-Kapelle

© Gabriele von Trauchburg


Die Grundsteinlegung zur Kapelle 1774

Den Grundstein zur neuen Kapelle legte 1774 der damalige Dekan des Kapitels Geislingen und Donzdorf, der Pfarrer Agnes G. Schroz. Da die Kirchengemeinde Nenningen nach der gerade überstandenen Hungersnot über kein nennenswertes Vermögen verfügte, sorgte der Patronatsherr, Maximilian Emanuel von Rechberg, dafür, dass die Baukosten sich in einem engen Rahmen hielten. In einer Festschrift zur Kapelle von 1871 wurde vermerkt: Da zum Bau ein eigener Fond, aus welchem die Ausgaben hätten geschöpft werden können, nicht vorhanden war, so hat der erwähnte besonders Erlauchte Herr Maximilian Emanuel von Rechberg in seiner bekannten Freigebigkeit und Frömmigkeit alles Holz, die gebrannten Dachziegel und den Kalk umsonst geliefert. Die Kirchenfabrik (= Kirchenverwaltung) bezahlte die Handwerksleute, die Gemeinde aber leistete Hand- und Spanndienste. Das Gebäude hat aufgebaut der Architekt I. Mich. Keller aus Schwäbisch Gmünd. Die Kirchenpflege verwaltete der Müller Melchior Waibel und Konrad Geiger. Und nun möge der allgütige große Gott die Kapelle zu größerem Ruhme seines Namens und zu Ehren der Schmerzhaften Jungfrau seiner Mutter erhalten.
Deutlich geht aus dem Text folgendes hervor: Nur die gemeinsame Anstrengung und Zusammenarbeit von Patronatsherr und der Gemeinde Nenningen erlaubte es, kurz nach einer schweren klimatischen und damit verbundenen wirtschaftlichen Krise dieses Werk in Angriff und zu einem guten Abschluß zu führen.

Die Altarweihe in der neuen Kapelle

Die Kapelle war nun gebaut, aber noch nicht ausgestattet. Gleich danach wurde darin ein Altar errichtet und geweiht. Auch dazu gibt uns die Festschrift von 1871 einige Informationen: Am 12. Juni 1774 weihten der Donzdorfer Pfarrer und Dekan Schroz sowie der Nenninger Pfarrer Kübler die Kapelle. Es war eine beeindruckende Feier, zu der auch die hochwürdigen Herren Jakob Hirschmüller - Pfarrer in Reichenbach (unter Rechberg), Jakob Dangelmayer - Pfarrer in Wißgoldingen, und Baltasar Brauer - Pfarrer in Waldstetten gekommen waren. Jakob Hirschmüller hielt eine ausgezeichnete Predigt zu Ehren des Heiligen Herzens Jesu (der 12. Juni ist diesem gewidmet).  In den Altar wurden gelegt die Heiligen Reliquien aus den Gebeinen der Heiligen Martyrer Auxilius, Theophilus, Modestus, Clemens, Columbus, Severinus et Vigilantius - sodann ein Bild der seligen Jungfrau und ein Heiliges Kreuz von Wiblingen. Münzen aber mit Rücksicht auf die Armuth der Fabrik (= Kirchenverwaltung) ein Groschen und ein Denar von Konstanz. 
Trotz dieses Altares war die Ausstattung noch immer recht bescheiden, besonders für das Zeitalter des Rokoko. Diesem Zustand half wiederum Maximilian Emanuel ab, wie das nächste Kapitel zeigen wird.

Der Donzdorfer Kapellenweg - Teil 9.1 - Lage und Vorgeschichte der Pietà-Kapelle

© Gabriele von Trauchburg


Der Schlussstein über dem Eingangsportal verrät eindeutig, dass die Kapelle am westlichen Ortseingang von Lauterstein-Nenningen im Jahre 1774 erbaut worden war. Sie ist der Neubau einer kleineren Kapelle, die zuvor an dieser Stelle gestanden hatte.

Die Lage der Kapelle

Wegen der heutigen Bebauung erkennt man nur noch schwer den Zusammenhang zwischen der Lage der Kapelle und ihrer Bedeutung. Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es keine Gebäude rund um die Kapelle. Statt dessen lag sie deutlich vor dem Dorf am Ufer der Lauter auf dem Weg zu den Nenninger Feldern und Wiesen. 
Nenningen liegt wie ein Riegel vor dem östlichen Eingang zum engen Taltrichter der Lauter, der hier aufgrund der steilen Hänge des Albtraufs und des Kreuzbergs sehr schmal wird. Schaut man in westliche Richtung, dann eröffnet sich dem Betrachter ein ganz anderes Bild: Das Tal weitet sich nun zu einem flachen Talgrund, auf dem Landwirtschaft möglich war. Ein Blick in die alten Abgabenbücher der Herrschaft Weißenstein verrät, dass hier auch tatsächlich Ackerbau betrieben wurde. Hier wuchs nicht nur Getreide, sondern zeitweise auch Hopfen für die ehemalige Brauerei im benachbarten Ortsteil Lauterstein-Weißenstein.

Die Vorgeschichte der Kapelle von 1774

Überlieferte Einzelheiten zur alten Kapelle am Weg zu den Feldern und Wiesen des Dorfes Nenningen gibt es nicht. Man weiß nur, dass sie erstmals 1582 erwähnt wurde. Im Gegensatz zu Grünbach und Unterweckerstell gehörte ihre Verwaltung nicht zu denjenigen, die Kredite vergaben.
Die Kapelle war zu Ehren der allerheiligsten Dreifaltigkeit und der schmerzhaften Jungfrau Maria und zu Ehren des Heiligen Florian und Wendelin geweiht. Aufgrund der Lage der Kapelle - am Weg zu den Feldern und Wiesen - muss man ein besonderes Augenmerk auf die beiden Heiligen Florian und Wendelin werfen. Allein die Verehrung dieser beiden Heiligen weist deutlich darauf hin, vor welchen Schicksalsschlägen die Bewohner Nenningens sich am meisten fürchteten und wofür sie beteten.
Der Heilige Florian ist uns allen bekannt als Beschützer vor Feuer. Daneben hilft er aber auch bei Unwetter, unfruchtbarem Boden und Trockenheit - Phänomene, die man Rande der Schwäbischen Alb sehr wohl kennt. Der Heilige Wendelin ergänzt auf ideale Weise den Wirkungskreis von Florian. Wendelin ist der Patron der Hirten, Bauern und Schäfer, zudem des Viehs. Er hilft gegen Viehseuchen und sorgt für gutes Wetter und gute Ernte. Reliquien der beiden Heiligen befanden sich bereits im alten Kapellenaltar. Wie sehr die Zeitgenossen den Beistand der beiden Heiligen benötigen konnten, zeigen die Jahre von 1770 bis 1772.

Ein vulkanischer Winter und seine Folgen

Zwischen 1770 und 1772 veränderte sich schlagartig das Klima. In ganz Mitteleuropa fiel bis in die Sommermonate Juni und Juli Schnee. In der Folge wurden die Ernten von drei Jahren nahezu vollständig vernichtet. Ein heftiger Vulkan-Ausbruch ist wohl die wahrscheinlichste Erklärung für diese plötzliche und zeitlich begrenzte Klimaveränderung. In der Folge wurden damals die Lebensmittelvorräte knapp, die Menschen litten Hunger.
Noch heute können wir die Auswirkungen dieser Zeit in den Totenbüchern der Kirchengemeinden ablesen. Die Zahl der Verstorbenen schnellte sprunghaft in die Höhe - vor allem Kinder und alte Menschen waren davon betroffen. Sie starben - so notierten die Pfarrer - an Auszehrung, also am Hungertod.
Ab 1773 änderte sich die Lage dann wieder zum guten: Die erste Ernte konnte wieder eingefahren werden und die gesamte wirtschaftliche Situation verbesserte sich allmählich. Wohl aus Dankbarkeit, dieser Katastrophe entronnen zu sein, beschlossen der Herrschaftsinhaber und die Einwohner von Nenningen, die alte, außerhalb des Ortes gelegene Kapelle abzureißen und neu zu erbauen. Vor dem Abriss brachte man die kleine Pietà, die bis dahin in der Kapelle gestanden hatte, in die Pfarrkirche St. Martinus.

Pietà - um 1440,  St. Martinus Nenningen, - © GvT

         









 



 

Montag, 4. Februar 2019

Der Donzdorfer Kapellenweg - Teil 4.6 - Hürbelsbach als Filiale von St. Martinus Donzdorf

© Gabriele von Trauchburg


Hürbelsbach als Filialkirche   

Spätestens seit 1569 ist die Kapelle Hürbelsbach eine Filialkirche der Pfarrei St. Martinus in Donzdorf. Diese Veränderung steht wohl im Zusammenhang mit der Einführung der Reformation im Kloster Anhausen im Jahre 1535 und dem Augsburger Religionsfrieden von 1555, gesicherte Quellen darüber gibt es jedoch nicht.
Während des 30jährigen Krieges hatte man die Kapelle ausgeräumt, um sie vor Plünderungen zu schützen. Anfang der 1650er Jahre berichtet die Heiligenrechnung dann von einem Rücktransport eines Altars nach Hürbelsbach. Einige Jahre später, 1688/89, wurde ein erster Seitenaltar aufgestellt. Man weiß nicht, wer diesen Altar hergestellt hatte, noch wie er gestaltet gewesen war.
Während des 18. Jahrhunderts sind mehrere größere Renovierungen vorgenommen worden. Ab dem Jahre 1725 sind verstärkt Andachten in der Kapelle in der Kreuzwoche - also zwischen dem 13. und 20. September - anhand der Ausgaben zu beobachten. Offenbar versuchte man, eine Wallfahrt in Hürbelsbach einzurichten. Aus diesem Grunde wurde die Kapelle in den folgenden drei Jahren schrittweise verschönert. Als 1728 in St. Martinus das alte Pflaster in der Kirche ersetzt wurde, erwarb die Kapellenverwaltung 400 Stück davon und verlegte sie in St. Laurentius. Zudem wurde das Gebäude frisch gekalkt und schadhafte Ziegel ersetzt. Und in der Kreuzwoche schmückte der Mesner den Altar in besonderer Weise.
Die Rechnung im darauf folgenden Jahr hält eine Überraschung bereit. Sie erwähnt erstmals das Hürbelsbacher Vesperbild. Doch während wir heute diese Figurengruppe in ihrer schlichten Schönheit bewundern, verlangte die Zeit des Barocks mehr. Die Rechnung besagt, dass dem geklaidten Vesperbild ein Schlair (Schleier) gekaufft worden war, der eine Länge von 4 Ehlen  (Ellen) aufwies und aus Seideldaffet (= Seidentaft) gearbeitet gewesen war.
Pietà im Schrein der Hürbelsbacher Kapelle - © GvT

Dieser kurze Vermerk über einen Stoffkauf ist gleichzeitig die erste schriftliche Nachricht über die Hürbelsbacher Pietà. Für uns heute kaum vorstellbar wurde die Figurengruppe im Zeitalter des Barocks mit Stoffkleidern versehen, ähnlich wie beim Gnadenbild in der oberbayerischen Klosterkirche Ettal oder in Maria Einsiedeln in der Schweiz. 
Auch in den Folgejahren wurde die Ausstattung der Hürbelsbacher Kapelle weiter vorangetrieben. So schuf ein nicht näher genannter Schwäbisch Gmünder Meister 1730/31 vier Blumenkrüge. 1735 stellte der Eybacher Maler Johann Jakob Kummer ein Antependium her, auf dem eine Darstellung des Heiligen Laurentius mit den Armenseelen zu sehen war. Kummer erhielt dafür 3 Gulden und 12 Kreuzer. Fünf Jahre später lieferte derselbe Künstler vier Blumenkörbe für 2 Gulden 40 Kreuzer, die ebenfalls farbig gestaltet waren. Anfang der 1740er Jahren wurde der Choraltar um ein Kreuz ergänzt und die in der Kapelle vorhandene, aus sechs Stücken zusammengesetzte Holztafel mit der Darstellung des heiligen Laurentius zusammengeleimt und der vorhandene Rahmen repariert. Am Ende dieses Jahrzehnts war die kleine Glocke im Turm zersprungen. Sie wurde eingeschmolzen und von den beiden renommierten Ulmer Glockengießern Kron und Frauenlob neu gemacht.

Die Barockisierung der Hürbelsbacher Kapelle

In den beiden Jahren 1750 und 1751 erhielt die Kapelle einen neuen Altar im Wert von 56 Gulden, den der Donzdorfer Schreiner Johann Staudenmayer anfertigte. Es handelt sich hierbei vermutlich um denjenigen Altar, der auch heute noch in Hürbelsbach steht. Dieser besitzt eindeutig barocke Elemente.

Der Hürbelsbacher Altar in seiner gegenwärtigen Form bei geschlossenen Flügeln. Der Altartisch und die Predella weisen barocke Elemente auf - © GvT

Im Altarschrein befand sich damals noch nicht die Pietà, sondern ein von dem Schwäbisch Gmünder Maler Johann Jakob Urbon (in der Literatur auch ‘Urban’), einem Mitglied der bekannten Gmünder Malerfamilie, für 40 Gulden gefertigtes Altarblatt. Urbon hatte zunächst einen Entwurf angefertigt, der die Zustimmung der Kapellenverwaltung gefunden hatte. Als die einzelnen Elemente angefertigt gewesen waren, wurde der Altar in der Donzdorfer Zehntscheuer von sieben Männern aufgebaut.
Doch damit stellt sich nun die entscheidende Frage: Wenn Staudenmayer einen neuen Altar geschaffen hatte, was war dann mit dem Zeitblom-Altar passiert? Man gewinnt den Eindruck, dass der alte Altar in Einzelteile zerlegt und Teile davon noch in der Kapelle präsentiert wurden.
Gleichzeitig mit dem neuen Choraltar entstand auch noch die Statue der Heiligen Ottilia. Diese fertigte ein nicht namentlich genannter Schwäbisch Gmünder Bildhauer für 4 Gulden und 30 Kreuzer an. Anschließend trug der Sohn des Malers für 10 Kreuzer die Heiligenfigur nach Weißenstein, wo der dortige Maler ihr für den Preis von 1 Gulden und 45 Kreuzern eine farbige Fassung verlieh.
Die Heiligenrechnung belegt damit eindeutig ihren Entstehungsprozess im Jahr 1751. Damit ist die bislang gültige Annahme, sie sei bereits Ende des 15. Jahrhunderts entstanden, widerlegt.
Die Heilige Ottilia wird bei Augenleiden angerufen. Weil es im 18. Jahrhundert noch keine moderne Augendiagnostik gab, suchten die Gläubigen bei der Heiligen Hilfe. So wuchs Hürbelsbach zu einem Wallfahrtsort für ein Leiden, um dessen Linderung sonst nirgends in der Region gebetet werden konnte.
Die Figur der Heiligen Ottilia, die mit ihren Attributen Buch und zwei Augen dargestellt ist, stand bis 1969 in der Hürbelsbacher Kapelle. Sie wurde gemeinsam mit der Heiligen Appolonia gestohlen und ist seither verschollen.
Heilige Ottilia, 1751, gestohlen 1969 und seither verschollen

Die Heiligenrechnung von 1758 offenbart, dass es außer der Heiligen Ottilia noch eine weitere  Statue in der Hürbelsbacher Kapelle gegeben hatte. In der Liste der Ausgaben taucht die Eintragung auf, dass der Waldstetter Maler Anton Sebastian Bez, der viele Jahre später auch für die Kapelle Grünbach arbeitete (s. dort), für die Fassung Von das Frauenbild und die Cron bezahlt worden ist. 


1770-1773 - Ein vulkanischer Winter und seine Auswirkungen

In der Zeit zwischen 1770 und 1773 kam es zu einem vulkanischen Winter. Ein derartiges Phänomen bedeutet, dass innerhalb kürzester Zeit die jährliche Durchschnittstemperatur um 2 Grad oder noch mehr sinken kann. Außerdem sind außergewöhnlich viele Niederschläge in Form von Schnee und Regen zu verzeichnen. Die große Hungersnot von 1815-1817 mit all ihren Erscheinungsbildern ist bekannt. Genau dieselben Probleme traten zwischen 1770 und 1773 auf.
Daher verwundert es nicht, dass für die Kapelle Hürbelsbach für 1771 eine detaillierte Rechnung des Donzdorfer Glasers Joseph Deibele in Höhe von 16 Gulden und 40 Kreuzer vorliegt. Diese für Glaserarbeiten extrem hohe Summe zeigt, dass es damals zu enormen Unwettern genommen war. Daher verwundert es auch nicht, dass der Donzdorfer Maurer Johannes Höllriegel Reparaturen am Dach hatte vornehmen müssen. Wie groß die Not tatsächlich war, erkennt man auch am Erwerb eines Partikels von den Gebeinen des Heiligen Laurentius durch den Donzdorfer Pfarrer und Dekan Schroz. Die Reliquie kostete 10 Gulden. Anschließend ließ Schroz dafür noch eine Monstranz in Höhe von 5 Gulden anfertigen. 
Im Jahre 1774 war das schlimmste überstanden. Deshalb konnte man im folgenden Jahr an  Reparaturen gehen. Zwischen Mai und November erledigte wieder der Maurermeister Höllriegel die notwendigen Arbeiten am Dach, für die er u.a. 200 Dachziegel aus Schnittlingen benötigte.
Gleichzeitig wurde im Inneren der Altar wieder auf Hochglanz gebracht. Zuerst nahm der Donzdorfer Schreiner Johannes Menrad Reparaturen am Choraltar, den beiden Seitenaltären und schließlich an der Kanzel vor. Anschließend versah der Zimmermann Michael Schuhmacher den Choraltar mit einem Gerüst, damit im folgenden Jahr der uns bereits bekannte Maler Anton Bez aus Waldstetten eine neue Fassung aufbringen konnte.
Zwei Jahre später wurden die beiden neuen Türflügel von Schreiner Menrad gefertigt und mit Zubehör vom Schlosser Johann Michael Schwarz ausgestattet. Zum Schluss erhielt die Kapelle noch einen neuen Opferstock, den ebenfalls der Schlosser Schwarz hergestellt hatte.


Die Folgen der Napoleonischen Ära

Am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Eingang zum Lautertal immer wieder Schauplatz von Truppendurchmärschen, sei es durch französische Revolutionstruppen oder kaiserliche Soldaten. Die Napoleonischen Kriege kosteten Unsummen von Geld, die von den einzelnen deutschen Herrschaften aufgebracht werden mussten. Um Plünderungen zu vermeiden, versorgte man die Truppen so gut als möglich, am besten mit Wein und Brandwein.  Dies hatte zur Folge, dass die rechbergischen Herrschaften bis 1808 finanziell vollständig ausgeblutet waren. Zur Rettung der erst 1770 gegründeten Pfarrei Hohenrechberg hatte Maximilian Emanuel von Rechberg bereits die Wallfahrt auf den Bernhardus auf den Hohenrechberg (vgl. dazu in diesem Post) übertragen lassen.
Auch der Donzdorfer Pfarrer Joseph Rink musste, wo immer möglich, Einsparungen vornehmen. Dies gelang am ehesten bei den Kapellen. Es verwundert daher kaum, dass man mit dem Ausverkauf der Kunstgegenstände in den Kapellen begann.
Wie bereits in Teil 4.5 ausgeführt, wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Altarflügel des Zeitblom-Altars durch den Donzdorfer Pfarrer Rink verkauft. Einzelne schriftliche Details darüber findet man nicht mehr. Doch nicht nur die Zeitblom-Tafeln wurden aus Hürbelsbach entfernt. 
Im Jahre 1810 erfährt man aus einem Brief von Joseph von Rechberg, Sohn von Maximilian Emanuel, an seinen Bruder und damaligen Verwalter der rechbergischen Herrschaften, Franz Xavier, dass noch immer altdeutsche Elemente sich in der Hürbelsbacher Kapelle befanden. Joseph, der Gemäldesammler innerhalb der Familie, bat seinen Bruder, ihm zwei altdeutsche Bilder aus Hürbelsbach zu schicken. Diese Stelle im Brief legt die Vermutung nahe, daß zwei weitere spätgotische Gemälde, über deren Motive keine Überlieferung existiert, aus dieser Kapelle entnommen und auf dem Münchner Kunstmarkt verkauft wurden.
Im Jahre 1814 sollte die Kapelle Hürbelsbach ganz abgerissen werden. Zum damaligen Zeitpunkt muss sie bereits leergeräumt gewesen sein, d.h. auch das Epitaph von Ulrich II. von Rechberg war aus der Kapelle entfernt und in die Pfarrkirche St. Martinus (s. St. Martinus - Gruftkapelle) gebracht worden. Man hatte, so erzählt die Legende, bereits mit den Abbrucharbeiten am Turm begonnen. Zuerst sollte die kleinere Glocke entfernt werden. Diese war der Heiligen Susanna, der Patronin der Glocken, gewidmet. Die keusche Susanna steht mit ihrer Standhaftigkeit und der gerechtfertigten Rettung vor dem ausgesprochenen Todesurteil für das Hoffnungsbild aller Christen. Glockeninschrift soll gelautet haben: Susanna, sollst ewig da hanga. Als der gerade anwesende Rink diese Nachricht vernommen hatte, soll er die Abbrucharbeiten beendet haben. Die Kapelle Hürbelsbach war ihrem Schicksal entgangen.


Hürbelsbach bis zum Ende des 19. Jahrhunderts

Im Jahre 1885 wurde die Hürbelsbacher Kapelle erneut völlig umgestaltet. Zuerst erhielt die Kapelle einen bis heute erhaltenen Anbau (Kirchenschiff) aus lokalem Sandstein.
Der barocke Altar verschwand bis auf Predella und Mensa, die auch heute noch als solche genutzt wird (s.o.). Der im Zeitalter von Historismus und Neogotik nach gotischem Vorbild gestaltete Altarschrein ist aus ursprünglich nicht zusammen gehörenden Teilen zusammengesetzt worden. Während die Pietà sich  bereits in der Hürbelsbacher Kapelle befand, dürften die beiden Seitenflügel, Kopien von Originalen vom Ende des 15. Jahrhunderts, ursprünglich aus Unterweckerstell stammen.

Der Hürbelsbacher Altar in seiner heutigen Fassung. Das Schreingehäuse entstand wohl in der Zeit der Neogotik - © GvT

Zusätzlich wurde der Chor mit vier Wandbildern aus der Vita des Heiligen Laurentius von Ludwig Traub ausgestattet. Die im Chor gemalten Szenen sind heute aufgrund des Absperrgitters für den Besucher nicht sichtbar und werden deshalb hier gezeigt:   

© GvT

Das erste Bild zeigt die Gefangennahme von Papst Sixtus II. durch die römische Staatsmacht. Laurentius wollte seinem großen Vorbild in den Tod folgen, doch der Papst erteilte ihm den Auftrag, den Kirchenschatz an Leidende und Arme auszuteilen.

© GvT

Im zweiten Bild präsentiert Laurentius der Staatsmacht (= Männer links im Bild) die von ihm gegen den Willen von Kaiser Valerian beschenkten Armen als ‘die wahren Schätze der Kirche’.

© GvT
Die Staatsmacht sah sich düpiert und reagierte mit der Verhaftung von Laurentius. Er wurde mit Bleiklötzen geschlagen und zwischen glühende Platten gelegt. Man versuchte vergeblich, ihn zum heidnischen Opferdienst zu zwingen. Schließlich befahl der Kaiser, den standhaften Laurentius über stetig unterhaltenem Feuer auf einem Rost langsam zu Tode zu martern - daher also sein Attribut, der Gitterrost. Selbst in diesen Qualen bewahrte er sich seinen Humor und neckte den Henker, er solle ihn auf dem Feuer wenden, der Braten sei auf der einen Seite schon gar (Bild 3).

© GvT

Sein Kerkermeister Hippolytus war von Laurentius Standhaftigkeit so tief beeindruckt, dass er sich zum Christentum bekehrte und ihn begrub (Bild 4)

Signatur von Ludwig Traub im 4. Bild des Zyklus. Ludwig Traub, der auch den Heiligen Georg in Unterweckerstell gemalt hatte, ist einem breiten Publikum durch ein anderes Werk bekannt - er illustrierte mit 24 Strichätzungen und acht Holzstichen insgesamt sieben Marienkalendergeschichten von Karl Mayn

St. Laurentius im 20. Jahrhundert

Das Hürbelsbacher Lied
Auf Wunsch des Donzdorfer Pfarrers Karl Altmann entstand 1937 der Text für das Hürbelsbacher Lied. Der Autor des Textes ist der Donzdorfer Arzt, Dr. Franz Xaver Frey. Am 5. Februar 1937 brachte er den endgültigen Text zu Papier, als Grundlage diente eine bereits bestehende Melodie.
Die Entstehung dieses Liedtextes zu Beginn des Jahres 1937 muss vor dem Hintergrund der damaligen Zeit betrachtet werden. Schon während des gesamten Jahres 1936 wurden Vorbereitungen für den von Hitler geplanten Krieg getroffen. Ab Januar 1937 lief die Rüstungsmaschinerie auf vollen Touren. Ausgestattet mit diesem Wissen eröffnet sich vor allem ein ganz neues Verständnis für die Worte im dritten Vers des Liedes.  
Später vermachte er den Originaltext dem jungen angehenden, gläubigen Arzt Dr. Joseph Deininger. In der Regel wird bei jedem Gottesdienst und bei Andachten in der Kapelle das Hürbelsbacher Wallfahrtslied gesungen.

Umfassende Sanierung in den 1960er und Umgestaltung in den 1990er Jahren
Im Jahre 1964 begann die umfassende Außensanierung, die ein Jahr später durch die Innensanierung fortgesetzt wurde. Damals wurde die neogotische Ausstattung in weiten Teilen beseitigt. Die ornamentalen Malereien wurden übertüncht, übrig blieb nur der Laurentius-Zyklus von Ludwig Traub. Die 1885 aufgestellten Seitenaltäre wurden entfernt und durch  Heiligenfiguren ersetzt. Leider zog die frisch renovierte Kapelle Diebe an. Wie schon oben dargestellt, stahlen Unbekannte 1969 die beiden Heiligenfiguren Ottilie und Appolonia.
Nach dem Diebstahl von 1969 ermöglichte die finanzielle Stiftung von Generalkonsul Dr. Alexander Grupp und seiner Ehefrau Isolde eine Reihe von Änderungen in der Kapelle. 1984 erfolgte die Sicherung der Hürbelsbacher Figuren. 1991 kam ein neues, im gotischen Stil gestaltetes Gestühl hinzu, das bis heute in der Kapelle steht. 1993 konnte das Geläut um eine Marienglocke ergänzt werden. Diese war in der Gießerei A. Bachert in Heilbronn entstanden. Sie klingt in h”, wiegt 50 Kilo, ist 42 cm hoch und besitzt einen Durchmesser von ebenfalls 42 cm. Auf ihr ist ein Bild der Hürbelsbacher Pietà und die 3. Strophe des Hürbelsbacher Wallfahrtsliedes zu sehen. Die Glocke wurde am 29. August 1993 geweiht, 500 Jahre nach der Stiftung der Sidler-Glocke durch Ulrich II. von Rechberg .

Quellen und Literatur

GRFAD - Heiligenrechnungen von Hürbelsbach
- Walter Ziegler, Die Kulturdenkmale des Kreises Göppingen, o.J.
- http://karl-may-wiki.de/index.php/Ludwig_Traub
- https://www.heiligenlexikon.de/BiographienL/Laurentius.htm
- https://archivalia.hypotheses.org/98441 (Geschichte der Malerfamilie Urbon/Urban)

Geschichte(n) von Gingen/Fils - Teil 1.3: Die erste bekannte Gingener Dorfherrschaft: Königin Kunigunde

© Gabriele von Trauchburg Als zweite Frau möchte ich Ihnen die deutsche Königin Kunigunde vorstellen. Sie ist diejenige Königin, die ih...