Montag, 18. Februar 2019

Der Donzdorfer Kapellenweg - Teil 9.5: Lauterstein-Nenningen - Weltkunst am Fuße der Alb - Die Nenninger Pietà

© Gabriele von Trauchburg



Die Nenninger Pietà entstand direkt nach der Überwindung einer großen Hungersnot und in deren Folge mit vielen Toten. Diese Figurengruppe, die großes Leid widerspiegelt und gleichzeitig aufzeigt, dass selbst die zentralen christlichen Figuren schweres Leid ertragen und überwinden konnten, spendet dem Betrachter Trost und Hoffnung. 

Pieta oder Vesperbild

Der italienische Fachbegriff ‚Pietà’ bedeutet übersetzt ‚Mitleid,  Frömmigkeit’. In der bildenden Kunst versteht man darunter die Darstellung Mariens als Mater Dolorosa (Schmerzensmutter) mit dem Leichnam des gerade vom Kreuz abgenommenen Jesus Christus.
Neben dem aus der italienischen Sprache abgeleiteten Fachbegriff wird auch oft die deutsche Bezeichnung Vesperbild verwendet. Bei der Zuordnung der Horen (Stunden im Stundengebet) des Breviers zu bestimmten Stationen der Passion Christi wurde die Kreuzesabnahme der abendlichen Vesper zugeordnet. So kam es für die Darstellung des Moments nach der Kreuzesabnahme zur Bezeichnung ‚Vesperbild’.


Pietà-Darstellungen im Laufe der Geschichte

Seit dem 14. Jahrhundert setzten sich zahlreiche berühmte Künstler mit diesem Thema auseinander. Das 14. Jahrhundert war in seinem gesamten Verlauf von sehr viel Leid geprägt: Zwischen 1315 und 1317 litt das nördliche Europa unter der ‘Großen Hungersnot’.
Eybacher Pietà, um 1320 - © GvT
Ab den 1330er Jahren bis 1347 wurde wegen der Auseinandersetzungen zwischen dem Papst und Kaiser Ludwig dem Bayern der Gottesdienst in den Regionen seiner Anhänger verboten. Die frühen Pietà-Skulpturen lassen sich somit als Beleg für die politische Zugehörigkeit zum kaiserlichen Lager in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts anführen.
Kaum war der umstrittene Kaiser Ludwig d. Bayer 1347 verstorben, wurde Europa zwei Jahre später von der ersten Pestepidemie heimgesucht. Wenige Jahre später kam es zu einem erneuten Ausbruch dieser Seuche. Wieder wurden die Kirchen geschlossen. Damit die Bevölkerung dennoch ihren Glauben leben konnte, wurden besondere Schwerpunkt für die tägliche Verehrung geschaffen: die Pietà-Gruppe oder die Nothelfer (vgl. Teil 6.3.).  
Gerade das Bild von der Muttergottes, die ihren sterbenden Sohn im Arm hält, spricht Menschen in allen Schichten und jeden Alters an. Man kann sich damit identifizieren und am Ende Trost aus dem Wissen schöpfen, dass selbst Maria nicht vor schmerzhaften Lebenslagen gefeit gewesen war.
Es ist daher kein Wunder, dass sich selbst die wichtigsten Künstler in der Vergangenheit bis in die Gegenwart mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben, darunter Michelangelo Buonarroti, Giovanni Bellini und Vincent van Gogh. 

Die Nenninger Pietà

Unwillkürlich fragt man sich, weshalb ausgerechnet ein bayerischer Künstler den Auftrag erhalten hatte, für ein kleines schwäbisches Dorf eine derartig monumentale Gruppe anzufertigen - gab es etwa keinen schwäbischen Bildhauer, der ein ähnliches Werk hätte schaffen können?
Bozzetto, vermutlich von der Nenninger Pietà, Bayerisches Nationalmuseum München - © GvT
Ganz offensichtlich wollte Maximilian Emanuel von Rechberg einen ihm bekannten Künstler, aus welchen Gründen auch immer. Die Pietà sollte die ansonsten schmucklose neue Kapelle ausfüllen und den Betrachter entsprechend beeindrucken. Es ist nicht bekannt, ab welchem Zeitpunkt der Kontakt zwischen Auftraggeber und Künstler begann - wahrscheinlich schon 1773, als die alte Kapelle abgerissen wurde.
Es scheint einen längeren Entscheidungsprozess bis zur endgültigen Ausführung gegeben zu haben, denn zwei Bozzetti, die zur Nenninger Pietà gehören dürften, sind überliefert - einer in Stuttgart und einer in München.
Franz Ignatz Günther schuf mit der Nenninger Pietà eine aus Lindenholz geformte Figurengruppe, deren Größe von den Aus-maßen des Chores der Kapelle bestimmt wurde. Aus diesem Grunde sind beide Figuren über-lebensgroß. Der Fass-maler, mit dem Günther hier zusammengearbeitet hat, ist nicht überliefert. Das Ergebnis der Zusammenarbeit beider Künstler ist jedoch berührend, beeindruckend, ausdrucksstark.  
Man sieht die imaginäre, nicht in der Bibel überlieferte Szene  direkt nach der Kreuzabnahme von Jesus. Man stellte sich vor, dass Christus - bevor er zu seinem Grabmal gebracht wurde - noch einmal seiner anwesenden Mutter in den Schoß gelegt worden war. In der von Günther gestalteten Szene lässt er die Muttergottes den Kopf und die linke Hand ihres Sohnes stützen. Dabei gleitet er seiner Mutter langsam aus dem Schoß, sein linkes Bein schwebt in der Luft.
Franz Ignatz Günther, Nenninger Pietà, 1774 -  © GvT
Die untröstliche Maria weint. Ihr Blick ist auf ihren gerade verstorbenen Sohn gerichtet. Ein lebengider Hauch von rosa liegt auf ihrem Gesichts. Bei Jesus Christus ist diese lebendige Hautfarbe bereits in ein für Tote typisches blau unterlaufenes weiß übergegangen. Diese besondere Farbwahl nimmt die sichtbare Gestaltung des Herabgleitens aus dem Schoß der Mutter nun im übertragenen Sinne für das Hinweggleiten vom Leben in Tod auf.
Franz Ignaz Günther hat in diese Figur all die schrecklichen Erfahrungen seiner Familie während der vorangegangenen Hungerkatastrophe in dieses Bildwerk eingebracht - mehrere seiner Kinder verstarben in dieser Zeit. Seine Frau starb, als die Nenninger Pietà an ihrem Bestimmungsort angekommen war. Kein Wunder also, dass diese Figurengruppe derart ausdrucksstark gelungen ist.
Der Künstler selbst war ebenfalls zu diesem Zeitpunkt bereits krank. Die Nenninger Pietà war sein letztes Werk, er starb nur wenige Monate nach deren Vollendung am 27. Juni 1775.

Der Weg der Pieta nach Lauterstein-Nenningen

Für das Zeitalter des Rokoko war die Feldkapelle kurz nach der Bebauung noch äußerst sparsam dekoriert. Deshalb sorgte der tiefgläubige Patronatsherr Maximilian Emanuel von Rechberg  für eine ausreichende Ausstattung, als er bei Franz Ignaz Günther in München die Pieta anfertigen ließ. Der Bildhauer erhielt 125 Gulden für seine Arbeit.
Ein Blick in die Rechnungsbücher der rechbergischen Herrschaften zeigt, dass im entsprechenden Zeitraum an keiner Stelle eine entsprechende Ausgabe vermerkt ist, ebenso gibt es keinen Brief oder eine Rechnung von Franz Ignaz Günther. Diese Beobachtung läßt nur einen einzigen Schluß zu: Maximilian Emanuel von Rechberg bezahlte die durchaus beachtliche Summe von 125 Gulden für Günther nicht aus den laufenden Betriebskosten seiner Herrschaften, sondern aus seinem Privatvermögen - von dem es keine Rechnungsbücher oder Kostenbelege gibt. 
Am 8. Dezember 1774 kam der Transport mit der Figurengruppe im Dorf an. In der Festschrift von 1871 heißt es dazu: Graf Maximilian Emanuel von Rechberg ließ auch das herrliche Vesperbild (Maria den Leichnam des Sohnes im Schoße haltend) in München fertigen. Am 8. Dezember 1774 kam das Bild hier an und wurde Herrn Ignaz Günther 125 fl dafür bezahlt.

Die kunsthistorische Bedeutung der Nenninger Pietà

Kunsthistoriker bezeichnen die Figurengruppe nicht nur als technisch, sondern auch in ihrer ausdrucksstarken Form und künstlerischen Potenz als vollendet. Sie ist die letzte der drei Pietà-Gruppen von Günther.
Dieses eindrucksvolle, überlebensgroße Kunstwerk markiert in der Bildhauerei den Endpunkt des süddeutschen Rokokos. Die Nenninger Pietà ist also nicht nur Günthers größtes Meisterwerk, sondern es markiert eine Epochengrenze in der Kunstgeschichte!!!
Der Umstand, dass es von einem bayerischen Künstler erschaffen und von einem schwäbischen Mäzen erworben wurde sowie bis heute an seinem Originalstandort verblieb, statt in einem bedeutenden Museum aufgestellt zu werden, bewirkte, dass es in der Forschung zwar bekannt, bisher aber kaum thematisiert wurde.
Bis heute wird der Wunsch des Stifters und der Erbauer der Kapelle respektiert. Zuerst eine Wegkapelle wurde sie am Beginn des 20. Jahrhunderts in eine Friedhofskapelle umgewandelt. Heute liegt die Kapelle in der Nähe einer stark befahrenen Bundesstraße - dennoch bietet sie seit rund 230 Jahren täglich den an ihr vorbeikommenden Menschen einen Ort der Besinnung und der Hoffnung für Trostsuchende sowie Raum für die Bewunderung einer einzigartigen Skulptur.

Quellen und Literatur

- GRFAD - Einschlägige Archivalien zur Pietà-Kapelle in Lauterstein- Nenninger
- Landesamt für Denkmalpflege Baden-Württemberg (Hrsg.), Dokumentation zur Untersuchung und Restaurierung der Pieta von Ignaz Günther in der Friedhofskapelle zu Nenningen, bearb. v. Anne-Kathrin Läßig, Stuttgart 2005

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