Mittwoch, 28. Juni 2017

Die barocke Wallfahrt auf dem Bernhardus - Teil 2: Der Heilige Bernhard vollbringt Wunder


© Gabriele von Trauchburg, Juni 2017

               
Im Jahre 1727 tat sich merkwürdiges bei der kleinen Kapelle auf dem Spitzkopf. Gleich mehrere Personen berichteten von der Erscheinung des Heiligen Bernhard von Clairvaux und an sich selbst wahrgenommenen Wundern.
Bernhard von Clairvaux (* um 1090 - 20. August 1153) war ein Abt, Mystiker und einer der bedeutendsten Mönche des Zisterzienserordens. Er war für dessen Ausbreitung über ganz Europa verantwortlich.
Er gilt als Patron der Bienen, Imker und Wachszieher. Er hilft bei Besessenheit durch Dämonen, bei Kinderkrankheiten und Tierseuchen. Zudem steht er den Menschen bei Gewitter, Unwetter und in ihrer Todesstunde bei.

Heiliger Bernhard mit den Marterwerkzeugen, zwischen 1600 und 1650 - © GvT

Der Glaube an Heilung durch den Heiligen Bernhard führte Menschen aus der Umgebung zur kleinen Kapelle auf dem Spitzkopf. Im Verlauf ihrer Wallfahrt erlebten mehrere Pilger eine spontane Heilung. Rasch verbreitet sich die Nachricht von diesen Wundern. Dabei drang sie auch zum Herrschaftsinhaber, Graf Gaudenz von Rechberg-Weißenstein vor. Dieser begann, bei der kleinen Kapelle mit dem systematischen Aufbau einer Wallfahrt - der Bernhardus-Wallfahrt. An deren Ursprung erinnert bis heute eine Tafel in der Kapelle mit folgender Inschrift:  

Dies ist der Ort, wo der Heilige Vater Bernhardus nach seinem Verbot zu Clarenthal (Clairvaux) anno Domini 1727 sich wiederum das erste Mal hat wundersam gezeigt und ihm zu Ehren dass folgende Jahr 1728 den 20. August die Erste Heilige Messe solemniter (d.h. feierlich, förmlich) gefeiert worden.  

Diese Tafel befindet sich heute an der Seitenwand der Kapelle aus dem 19. Jahrhundert


Quellen und Literatur

GRFAD, einschlägige Archivalien zur Bernhardus-Wallfahrt
Gabriele von Trauchburg, Lauterstein - Kirchenführer für Nenningen und Weißenstein, Lauterstein 2015  



Reformation im Mittleren Filstal, Teil 2 - Ulms Weg in die Reformation

© Gabriele von Trauchburg, Juni 2017


Der Ulmer Bürgermeister der Reformationszeit, Bernhard Besserer, versuchte zwischen 1521 und 1530 einen Mittelweg zwischen modernen Reformideen sowie Loyalität zum Reich und dem Stadtherren Kaiser Karl. V. zu finden. Die städtische Obrigkeit wollte in diesem Zeitraum keine Reformation einführen, weil diese nach Meinung des Rates nicht mit den ökonomischen und politischen Zielen der Stadt zu vereinbaren war. Deshalb wurden reformatorische Prediger zwischen 1521 und 1524 dann, wenn sie zuviel Aufmerksamkeit erregten, der Stadt verwiesen.

1524 - Ulms erster evangelischer Prediger

Im Jahre 1524 konnten Ulmer Bürger erstmals beim Rat einen eigenen Prediger durchsetzen. Die Wahl fiel auf Konrad Sam. Er war eifriger Anhänger des Schweizers Ulrich Zwingli und stand mit ihm ab 1526 in engem Briefkontakt. Auf diese Weise fanden Zwinglis Lehren Eingang nach Ulm.
In den folgenden drei Jahren wurde - nach dem Vorbild von Zwinglis Vorgehen in Zürich - schrittweise eine partielle Reformation eingeführt: 1526 wurde die Taufe in deutscher Sprache eingeführt und die Priesterehe erlaubt, dann ab 1527 die Fronleichsnams- und Palmprozession sowie das Himmelfahrtsfest aufgehoben.

Meinungsumfrage in Ulm zur Einführung einer Reformation 

Nach dem Reichstag von 1530 in Augsburg sahen sich die Ulmer gezwungen, sich offen zur Reformation nach dem Vorbild von Straßburg und Memmingen zu bekennen. Auf der Basis des Großen Ulmer Schwörbriefs von 1397 wurde eine Befragung der Bürgerschaft zur Einführung der Reformation durchgeführt. Im November 1530 stimmten die 17 Zünfte der Stadt, die Patrizier, Pfahlbürger, Beiwohner und einzelne Bruderschaften ab. 1621 der 1865 stimmberechtigten Personen entschieden sich zugunsten der evangelischen Lehre nach dem Zwinglischen Vorbild! Bei dieser Bürgerbefragung - das zeigen die Namenslisten - war die Landbevölkerung nicht in dieses Verfahren einbezogen worden.
Nach Abschluss dieses eindeutig ausgefallenen Votums veranlasste der Rat die nächsten Schritte: Die Stadt trat im Frühjahr 1531 dem neu gegründeten, evangelischen Schmalkaldener Bund bei. Damit war die Stadt militärisch nach außen abgesichert und konnte sich ihrer inneren Entwicklung widmen. Die Legitimation zur Durchführung der Reformation lieferte ein Rechtsgutachten des Ulmer Stadtsyndikus Hieronymus Roth.
Mitte April forderte Ulm Prediger von Straßburg, Konstanz und Basel an, um in der Stadt eine umfassende Reformation einzuführen. Unterstützt werden sollten sie vom neuen 9er-Ausschuss. Am 20. Mai 1531 trafen die drei Prediger Ambrosius Blarer aus Konstanz, Martin Butzer aus Straßburg und Johann Ökolampadius aus Basel ein.

Meinungsumfrage unter den Geistlichen im Ulmer Territorium

Zwischen dem 20. Mai und dem 2. Juni 1531 wurde ein aus 18 Artikeln bestehender Fragenkatalog für Geistliche verfasst und vom Rat der Stadt gebilligt. Auf dieser Grundlage wurden die städtischen Geistlichen examiniert. Die als tauglich erachteten Pfarrer und Ordensleute verblieben auf ihren Stellen, nicht geeignete Personen wurden aus ihren Stellen entfernt.
Am 16. Juni wurde die Messe abgeschafft. In der zweiten Juni-Hälfte wurde das Münster geschlossen und alle religiösen Bilder daraus entfernt. Am 16. Juli feierte Ambrosius Blarer das 1. Abendmahl nach dem neuen Glauben. Am 6. August wurde die neue, von Martin Butzer ausgearbeitete Kirchenordnung verkündet. Im Herbst schließlich wurden alle Klöster der Stadt aufgelöst.

Praktische Überlegungen und Planungen zur Einführung der Reformation in Ulm

Nach der Ankunft von Butzer, Blarer und Ökolampad am 20. Mai 1531 in Ulm begannen die Überlegungen um das praktische Vorgehen bei der Einführung der Reformation in Ulm und in dessen Territorium.  Bürgermeister Besser bestimmte, dass zuerst die Stadt und dann das Ulmer Land reformiert werden sollte. Ab dem Pfingstsonntag würden die Reformatoren in zentralen Orten predigen und mit diesen Predigten die Menschen zugunsten der Reformation überzeugen. Das Ulmer Territorium wurde hierfür aufgegliedert.
  • - Ambrosius Blarer sollte in der Reichsstadt selbst predigen
  • - Martin Butzer predigte in Geislingen 
  • - Johann Ökolampad und Konrad Sam wirkten südlich von Ulm

Widerstand in Geislingen
Über die Vorgänge an Pfingsten in der Stadtkirche ist man wohl unterrichtet, denn Martin Butzer berichtete über sein Geislinger Fiasko an den Ulmer Bürgermeister Besserer. Butzer hatte in der neuen Form von der Geislinger Stadtkanzel gepredigt und - nachdem er die Kanzel verlassen hatte, war Dr. Georg Oswald postwendend hinaufgestiegen und hatte Butzer und seine Thesen angegriffen. Martin Butzer musste also damit rechnen, dass auch bei jeder künftigen Predigt Pfarrer Dr. Oswald aufstehen und seine Sicht der Dinge darlegen würde. Eine vollständige Überzeugung der Gläubigen war auf diese Weise nicht zu erreichen. Eine heikle Situation war entstanden, zu deren Lösung Gingen beitragen sollte, wie noch im 4. Teil dieser Reihe erläutert wird. Und in Ulm verfolgte man weiterhin mit Hochdruck die anvisierten Ziele.

Einführung der Reformation in Ulm

Gleich nach den Pfingst-Feiertagen begann die eigentliche Einführung der Reformation im Territorium der Reichsstadt Ulm mit der Befragung ihrer Geistlichen in Stadt und Land. Am 7. Juni wurden die Pfarrer, Kapläne und Frühmesser einzeln vor die Ulmer Kommission geholt. Man stellte ihnen 18 Fragen - zur Berufung und Überprüfung der Prediger und Pfarrer, - zum Synodal- und Visitationswesen, - zur Neuordnung des Schulwesens, - zur Neuordnung der Kirchengebräuche, - zur Neuordnung der Zeremonien - und zur Kirchenzucht. Jeder einzelne Pfarrer musste seine persönliche Meinung zu jeder Frage abgeben. Seine Antworten wurden sorgfältig notiert.
Deutlich merkt man dem überlieferten Protokoll an, dass sich die Geistlichen möglichst unverbindlich ausdrückten, um keinerlei Angriffsflächen für eine mögliche Entlassung aus ihren Stellen zu bieten.

Das Patronatsrecht entscheidet über die Einführung  

Interessant für unsere Region ist auch die Tatsache, welche Geistlichen sich in Ulm der Befragung gestellt hatten bzw. hatten stellen müssen. Aus unserer Region erschienen in Ulm die Pfarrer von Böhringen und Kuchen, der Pfarrverweser von Süßen sowie die Kapläne von Böhringen und Hausen. Es fehlt der Gingener Pfarrer. Am Ende der Pfarrerbefragung hatte der Ulmer Rat und die drei Reformatoren einen genauen Überblick über die religiöse Situation im Ulmer Territorium erhalten. Und dieses zeigte noch lange kein einheitliches Bild. Von einer durchwegs begeisterten Annahme des neuen Glaubens konnte zumindest in der sogenannten Unteren Helfensteinischen Herrschaft keine Rede sein.  


Die neue Kirchenorganisation 

Dennoch trieb der Rat das Projekt Reformation weiter gezielt voran. Am 6. August 1531 wurde die neue Kirchenzuchtordnung, verabschiedet. Sie regelte das gesamte Alltagsleben neu, weil vom Rat nicht länger die päpstliche und bischöfliche Hoheit anerkannt wurde. Zu den neu geordneten Bereichen zählten die Kirchenorganisation (Bedienstete, Feiertage, Zeremonien, Tanzen und andere Vergnügungen), die Kirchenzucht (mit Taufe, Abendmahl, Konfirmation, Kirchengesang, Bilder-Verbot, Gebetspflicht), Kleidung, Eheschließung u. -scheidung, Umgang der Geschlechter miteinander, Kampf gegen Aberglauben, die Schulorganisation u. vieles mehr.  

Aus diesen Artikeln lassen sich in allen Punkten deutlich die Einflüsse Ulrich Zwinglis und damit das Bekenntnis der 4 Städte Memmingen, Konstanz, Lindau und Straßburg deutlich ablesen, der Einfluss Luthers auf diese erste Ulmer Kirchenordnung ist minimal, um - nicht zu sagen - nicht vorhanden.

Die Ulmer Kirchenordnung von 1531 bildete sozusagen das ‘Grundgesetz’ für Kirche und Ulmer Territorium, das in den folgenden Jahren bis 1540 mit immer neuen Ordnungen (= Gesetzen) ergänzt wurde. Mit all diesen neuen Gesetzen wurde das neue evangelische Verständnis vom Zusammenleben der Menschen allmählich mit Substanz ausgefüllt.
Die Umsetzung der Kirchenordnung in die Praxis begann am 11. Aug. 1531 mit dem Verbot der Messe. Der Gesang, die Beichte sowie sämtliche weiteren ‘päpstlichen’ Zeremonien wurden gleichfalls aus der Kirche verbannt. Ab dem 21. August 1531 wurden die Altäre, Bilder und Tafeln aus den Kirchen entfernt.
Das Mittelschiff des Ulmer Münsters - © GvT

Im Herbst 1531 wurden die Geistlichen ein weiteres Mal von Vertretern des Ulmer Rates und den Reformatoren befragt. Bei diesem Durchgang entschied sich nun endgültig, wer von den Pfarrern auf seiner Stelle verbleiben und wer gehen musste.

Quellen und Literatur

Stadtarchiv Ulm - einschlägige Archivalien zur Reformation in der Reichsstadt
Gabriele von Trauchburg, 915-2015. 1100 Jahre Gingen an der Fils, Gingen 2015, S. 102-106

Die barocke Wallfahrt auf den Bernhardus - Teil 1: die Anfänge der Wallfahrt

© Gabriele von Trauchburg, Juni 2017


Die erste Kapelle auf dem Bernhardus

'Bernhardus' ist eine Bezeichnung für einen Punkt am östlichen Albtrauf auf der Gemarkung der Stadt Lauterstein oberhalb von Weiler in den Bergen, dessen ursprüngliche geographische Bezeichnung Spitzkopf lautet.
Die exponierte Lage oberhalb des Furtlespasses zwischen Schwäbisch Gmünd und Lauterstein mit weitem Blick über die Landschaft des Remstales in Richtung Norden hatte - ähnlich wie am Hohenrechberg - schon vor dem Beginn der Bernhardus-Wallfahrt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Bau einer Kapelle angeregt, wo eine kleine, wundertätige Figur des Heiligen Bernhards von den Menschen aus der näheren Umgebung verehrt wurde.

Blick vom Bernhardus Richtung Norden - © GvT

Der Ursprung der ersten Kapelle an diesem Platz ist nicht bekannt. Deren erste Nennung datiert aus dem Jahre 1696.
In jenem Jahr beauftragte der Inhaber des Gutshofes Ruppertstetten, Hans Jörg Krueg, seinen in Degenfeld wohnenden Schwiegersohn, die Kapelle regelmäßig einmal in der Woche zu inspizieren und bei Bedarf Baumängel sofort zu beheben.Man fragt sich unwillkürlich, weshalb eine wöchentliche Baubeschau damals notwendig war. Zwei Gründe fallen mir ein
  • die Kapelle war baufällig, oder
  • die Wetterlage war so extrem, dass Unwetter den Baubestand gefährdeten. Tatsächlich war 1695 der Vulkan Oshima, einer der am häufigsten ausbrechenden Vulkane der Welt, wieder einmal tätig gewesen.           

 

Quellen und Literatur

GRFAD Donzdorf - Einschlägige Archivalien
Gabriele von Trauchburg, Lauterstein - Kirchenführer für Weißenstein und Nenningen, Lauterstein 2015

Dienstag, 20. Juni 2017

Reformation im Mittleren Filstal, Teil 5 - Der Verlauf der Reformation in Groß - Süßen

© Gabriele von Trauchburg, Juni 2017


In (Groß)Süßen, also demjenigen Teil des Dorfes, das auf der südlichen Seite der Fils gelegen war, hatte die Reichsstadt Ulm die Dorfherrschaft inne, das Patronatsrecht jedoch lag seit 1267 beim Kloster Adelberg.  

Das Süßener Patronat - eine Schenkung an das Prämonstratenserkloster Adelberg

Am 4. Januar 1267 schenkte Graf Ludwig von Spitzenberg mit der Einwilligung seines Sohnes Eberhard um ihr Seelenheil und das ihrer Vorfahren willen das Patronatsrecht der Kirche Süßen an das 1178 gegründete Prämonstratenserkloster Adelberg. Dieses Recht hatte dem Schenkenden und seiner Familie von alters her zugestanden. Die Schenkung umfasste nicht nur das Patronatsrecht im engeren Sinne, sondern auch die zugehörigen Besitzungen und deren Rechtstitel. Die Urkunde wurde in Kuchen ausgestellt und von mehreren Zeugen - Graf Ulrich von Helfenstein, seinem Bruder - der Dompropst von Augsburg - sowie mehrere Ritter, darunter Ruker und Hugo von Gruibingen, Friedrich Birker, Friedrich von Böhringen sowie Ritter Gossold und weiteren glaubwürdigen Männer - bestätigt.  

Erbstreit um das Süßener Patronat

Ab dem Ende des 13. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts zog sich ein Tauziehen um das Süßener Patronat hin. Die Helfensteiner waren Erben der Grafen von Spitzenberg. Die Auseinandersetzungen setzten mit dem Tod von Ulrich VII. von Helfenstein im Jahre 1298 ein. Dieser hatte im Jahre 1294 seinen einzigen Sohn verloren, der war während seines Studiums in Tübingen ermordet worden. In den darauffolgenden vier Jahren veräußerte Ulrich VII. eine ganze Reihe von Besitzungen.
Der im Kern romanische Kirchturm der Ulrichskirche, Süßen - © GvT

Offensichtlich waren die Erben von Ulrich VII. nicht bereit gewesen, die vorangegangenen umfangreichen Verkäufe zu akzeptieren, statt dessen versuchten sie, diese rückgängig zu machen. Aus diesem Grund sah sich das Kloster Adelberg mehrfach genötigt, sich den Besitz des Süßener Patronats bestätigen zu lassen. Dies geschah erstmals am 21. März 1298 durch König Adolf von Nassau in Ulm. Eine zweite Bestätigung stellte der Konstanzer Bischof Heinrich von Klingenberg am 20. Juni 1299 aus. Am 20. Januar 1300 bestätigte der Nachfolger von Adolf von Nassau, König Albrecht I. von Habsburg und zwei Monate später, am 20. März 1300, sogar Papst Bonifatius zum dritten und vierten Mal innerhalb von weniger als zwei Jahren den Adelberger Besitz des Patronats Süßen. Am 11. Mai 1323 kam es schließlich zum Abschluss der Auseinandersetzungen. Die Gründer der Wiesensteiger und der Blaubeurer Linie der Helfensteiner, Johann (Wiesensteig) und Ulrich (Blaubeuren), erklärten ihren Verzicht auf das Süßener Patronatsrecht.
Am 15. September 1346 wurde die bis dahin selbstständige Pfarrei Süßen in das Kloster Adelberg eingegliedert. Fortan wurde kein Pfarrer, sondern ein Adelberger Chorherr auf die Pfarrei berufen.

Der Pfarrverweser Geyß in Süßen

Da Süßen zum Ulmer Territorium gehörte, versuchte die Reichsstadt, die Bewohner Süßenes für die Einführung der Reformation nach Ulmer Maßgaben zu gewinnen. Aus diesem Grunde wurden die Dorfbewohner allesamt an Pfingsten 1531 zum Probegottesdienst nach Gingen eingeladen.
Eine Woche später, am 12. Juni 1531, fand die Pfarrvisitation in Ulm statt. Dort erschien vor dem reichsstädtischen Rat der Süßener Pfarrverweser Jörg Geyß.
Dieser erklärte den versammelten Ratsmitgliedern, dass ihm die 18 vorgelegten Artikel gefallen und er sich teilweise schon daran orientiert und entsprechend gepredigt hätte. Diese Erklärung des Pfarrverweser ist um so bemerkenswerter, weil er sich damit gegen seinen Patronatsherrn, das Kloster Adelberg, stellte.
Sein Verhalten in Ulm hatte deshalb tiefgreifenden Folgen für ihn: Seine Haltung war offensichtlich dem Adelberger Abt zu Ohren gekommen, denn schon am 24. Juni wurde Geyß beurlaubt. Die Ulmer hingegen hatte Geyß überzeugen können, so dass man ihn aufgeforderte, weiterhin zu studieren und später Anweisungen des Rates abzuwarten. 

Die Einführung der Reformation in Süßen

Im Jahre 1534 kehrte Herzog Ulrich von Württemberg aus dem Exil zurück. Einer seiner ersten Schritte bei der Übernahme seiner Herrschaft war die Einführung der Reformation innerhalb seines Herrschaftsgebiets.
Da das Kloster Adelberg eine Exklave im württembergischen Territorium darstellte, wurde es nun der herzoglichen Macht unterworfen, die Klostergüter eingezogen und die Klosterinsassen reformiert. Die württembergische Kirche vertrat von Anfang an die lutherische Lehre, doch der Gottesdienst im Herzogtum folgte weiterhin dem einfachen Predigtgottesdienst der süddeutschen Reichsstädte.
Zu den Adelberger Klostergütern zählte die Süßener Pfarrei, weshalb in ihr nun die württembergische Form der Reformation eingeführt wurde. Der württembergische Reformator Erhard Schnepf unterwies den damaligen Adelberger Pfarrverweser Joachim Macher im Schnellverfahren, so dass er weiterhin auf der Süßener Stelle als Prädikant verbleiben konnte.
Und er bewährte sich in den Augen der Bevölkerung: In der Kirchenvisitation des Ulmer Rates im Jahre 1535 wird Macher zwar noch als nach Adelberg gehörig bezeichnet, doch man führte an, dass er seit der Unterweisung durch den Reformator Erhard Schnepf keine Messe mehr gelesen hatte.

Konflikte um den ersten Süßener Pfarrer 

Die Zweiteilung der dörflichen Macht - Dorfherrschaft bei der Reichsstadt Ulm, Patronat beim Kloster Adelberg bzw. Herzogtum Württemberg - führte 1537 zu einem bemerkenswerten Konflikt.
Joachim Macher fühlte sich noch immer allein seinem Patronatsherrn verpflichtet. Deshalb betete er im allgemeinen Gebet allein für Herzog Ulrich - und für einen ehrsamen Rat (aus Ulm) mitnichten bitt.
Der Ausschluss der Dorfherrschaft aus dem Gebet der Süßener rief die Ulmer auf den Plan. In der Synode vom Juli 1537 verfügten sie, dass der Unterböhriger Prädikant sich nach Süßen begeben sollte und Macher dazu bewegen sollte, künftig auch den Ulmer Rat im Gebet zu berücksichtigen.

In den folgenden beiden Jahren kam es zu schweren Konflikten zwischen der Kirchengemeinde und dem Prädikanten, die dazu führten, dass die Gemeinde Süßen 1538 an den Ulmer Rat eine Bittschrift mit der Forderung nach Abberufung des Prädikanten Macher formulierten. Mehrfach hatte Joachim Macher Mitglieder seiner Kirchengemeinde vor den Kopf gestoßen und ihnen den religiösen Beistand verweigert.
In den schriftlich fixierten Beschwerden kommt deutlich zum Vorschein, dass die Vorstellungen vom Prädikanten und den Gemeindemitgliedern, wie der protestantische Alltag und die Ausübung der religiösen Handlungen gestaltet sein sollte, noch nicht konform waren - ein zu Beginn der Reformation häufig zu beobachtendes Phänomen. Doch aufgrund der Konflikte zwischen Prädikant und Kirchengemeinde wurde Joachim Macher wenig später seines Amtes enthoben.

Die Ausstattung der Kirche

Die Beseitung von Ausstattungsgegenständen in der Kirche, die in enger Verbindung zum katholischen Glauben standen, gehörte zu den Grundprinzipien der Ulmer und später auch der württembergischen Reformation. Daher verwundert es nicht, dass der Ulmer Rat 1541 dem Süßener Amtmann und den Vierern des Ortes nahelegte, die mit höchster Bescheidenheit und zubeschlossenen (= zugeschlossenen) Türen die entsprechenden Objekte und Ornate aus der Kirche zu entfernen und zu verkaufen.
Vielleicht war es der zeitliche Abstand zur Einführung der Reformation in Ulm 1531 oder eine hohe Verbundenheit der Kirchengemeinde zur bestehenden Kirchenausstattung, die die Beauftragten davon absehen ließen, den monumentalen Ölberg an der nördlichen Außenseite der Kirche, den 1507 gefertigten Zeitblom-Altar oder die vorhandenen Fresken zu beseitigen.
Ölberg-Szene auf der Nordseite der Ulrichs-Kirche von Süßen - © GvT

Augsburger Interim (1547) und Augsburger Religionsfriede (1555)
Nach dem Schmalkaldische Krieg, der für die Protestanten in einer deutlichen Niederlage gegen Kaiser Karl V. endete, wurde 1547 im Augsburger Interim festgelegt, dass alle aufgehobenen Klöster an ihre Orden zurückgegeben werden mussten und die evangelischen Pfarrer ihre Gemeinden verlassen mussten. So gelangte die Süßener Pfarrei wieder an der Kloster Adelberg, das wiederum einen katholischen Geistlichen einsetzte.
Auf dem Augsburger Reichstag 1555 wurde die Religionsfrage endgültig geklärt. Dem reichsunabhängigen Herrschaftsinhaber wurde die Festlegung der Religion in seiner Herrschaft nach dem Motto cuius regio - eius religio zugesprochen. Dies bedeutete nun für Süßen ein völlig neue Situation: Die Reichsstadt Ulm legte nun das Kirchenregiment fest. Der Rat der Stadt wandte sich daher zunächst an das Kloster Adelberg mit der Bitte um einen evangelischen Prädikanten. Doch Adelberg wies das Ansinnen ab. Aus diesem Grunde wandte die Ulmer sich nun an den württembergischen Herzog mit derselben Bitte.
Der Herzog schickte nun einen Mann nach Süßen, der im Ort kein Unbekannter war. Balthasar Fraid hatte bereits 1539-40 hier amtiert. Nun erhielt der die Gelegenheit für eine weitere Amtszeit. Mit seiner Amtseinführung ist der Reformationsprozess in Großsüßen abgeschlossen



Quellen und Literatur

- Urkunde von 1267, s. Online-Ausgabe des Württembergischen Urkundenbuches: https://www.wubonline.de/?wub=18
- Stadtarchiv Ulm, Archivalien zur Reformation
- Stadtarchiv Ulm, Visitationsberichte
- Ziegler, Walter, Von Siezun bis Süßen. Ein Streifzug durch 900 Jahre, Süßen 1971
- Die Grafen von Helfenstein. Stationen ihrer Geschichte, Begleitheft zur Weihnachtsausstellung 1994, Geislingen/Steige 1994
- https://de.wikipedia.org/wiki/Erhard_Schnepf

Montag, 5. Juni 2017

Reformation im mittleren Filstal, Teil 7 - Der Verlauf der Reformation in Schlat

© Gabriele von Trauchburg, Mai 2017



Die ersten konkreten Daten zur Geschichte der Pfarrei St. Andreas 

Die Existenz einer Pfarrei in Schlat (Lkr. Göppingen) wird erstmals im Zehntregister des Bistums Konstanz von 1275 belegt. Damals war sie Bestandteil des Dekanats Süßen. Weitere Details gibt das Register zunächst nicht preis. Aus dieser Nennung geht jedoch hervor, dass die Pfarrei zumindest  älter als das Konstanzer Zehntregister ist.
Die nächste schriftliche Überlieferung datiert in das Jahr 1351. Am 24. Juni jenen Jahres übergaben die Grafen Ulrich der Ältere und Ulrich der Jüngere von Helfenstein unter anderem das Schlater Patronatsrecht und den in der Regel zugehörigen großen Versorgungshof der Pfarrei, das Widdum, dem Abt und Konvent des Klosters Königsbronn, wie die entsprechende Urkunde im Hauptstaatsarchiv Stuttgart aufzeigt.

Andreas-Kirche in Schlat - © GvT

Vorgeschichte der Pfarrei St. Andreas

Die Urkunde von 1351 bietet den Raum zu Überlegungen über den oder die Gründer der Schlater Pfarrei. Die älteren Besitzer des Patronatsrechtes, also das Recht zur Besetzung der Pfarrei durch einen Geistlichen und die Pflicht zum Bau und Unterhalt der Kirche, waren die Grafen von Helfenstein. Sie sind die Rechts- und Besitznachfolger der Richinza von Spitzenberg. Diese Verbindung zwischen Richinza und den Helfensteinern eröffnet eine ganz neue Sichtweise auf die Entwicklung der Pfarrei.
Die erste Erwähnung eines bisher nicht näher identifizierten Ortes namens 'Schlatt' findet sich in einer Urkunde des Klosters St. Georgen aus dem Jahre 1139. Bisher konnte dieses Schlatt nicht identifiziert werden. Doch mit Hilfe von gängigen Regeln bei Besitz- und Rechtsnachfolge im Mittelalter lässt sich nun eine überzeugende Erklärung aufbauen.
Als einer der Stifter des Klosters St. Georgen gilt Ludwig von Sigmaringen († 1094). Dieser Ludwig war mit Richinza von Spitzenberg, Tochter des Berthold I. von Zähringen, Herzog von Kärnten und Markgraf von Verona, verheiratet. Richinza brachte ihrem Mann reichen Besitz im oberen Filstal und vermutlich auch Schlat mit in die Ehe. Es ist daher durchaus wahrscheinlich, dass über Ludwig von Spitzenberg-Sigmaringen und seine Frau Richinza das 'praedium' (Gut) Schlat an das um 1085 gegründete Kloster St. Georgen gelangte.
Weil die Schlater Pfarrei dem Heiligen Andreas gewidmet ist, darf man davon ausgehen, dass sie schon zum Zeitpunkt der Schenkung - also um 1085 - bestand. Denn, wenn die Pfarrei damals noch nicht existiert hätte, wäre es Aufgabe von St. Georgen gewesen, eine Pfarrei zu gründen. Diese hätte dann den Klosterheiligen - St. Georg - als Schutzpatron erhalten, so wie Gingen/Fils seine Kirchenpatrone vom Kloster Lorsch erhielt.
Einen Hacken hat dieses Modell allerdings: es gibt keine stichhaltige Erklärung, wann und warum das Patronatsrecht von Schlat vom Kloster St. Georgen an die Grafen von Helfensteiner gelangt sein könnte. Ein Tausch ist die wahrscheinlichste Möglichkeit, aber aufgrund fehlender Urkunden oder sonstiger schriftlicher Nachrichten nicht nachweisbar.


Die Pfarrei Schlat vor der Reformation

Im 15. Jahrhundert tobten die großen Städtekriege und Adelsfehden. Auch Schlat blieb davon nicht verschont. Sein schweres Schicksal fasst das Investiturprotokoll für Pfarrer im Bistums Konstanz aus dem Jahre 1464 mit dem einzigen Wort ‘ruinosam’ zusammen. Zu dieser Umschreibung passt auch die Tatsache, dass in den 1470er Jahren das Kirchengebäude wie in Donzdorf und Gingen einen ähnlichen spätgotischen Spitzhelm ausgestattet wurde.    
Bei der Einführung der Reformation in Schlat ging man bisher davon aus, dass sie im Jahre  1537 erfolgte. Denn das Kloster Adelberg besaß einen Anteil von 2/3 an der Dorfherrschaft, und dieses Kloster wurde unter württembergischem Einfluss ab 1535 reformiert.
Doch bei dieser Argumentation wurde übersehen, dass das Kloster Adelberg zwar die Dorfherrschaft, jedoch eben nicht das Patronatsrecht innegehabt hatte! Dieses lag nach wie vor beim Kloster Königsbronn. Das bedeutet, dass 1537 keine Reformation in Schlat stattfand.
Einen ersten Versuch zur Reformation des Klosters durch das Herzogtum Württemberg wurde 1539 unternommen. Doch die Mönche verweigerten die Annahme des neuen Glaubens. Das Kloster und sein Besitz blieben weiterhin dem katholischen Glauben treu.
Den Schmalkaldischen Krieg, die zwischen Kaiser Karl V. und den evangelischen Ständen von 1546 -1547 herrschenden bewaffnete Auseinandersetzung, überstand das Kloster ohne größere Schäden. Sein Ende kam im Zweiten Markgrafenkrieg, als die Truppen des Markgrafen Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach, die Klosteranlage 1552 niederbrannten. Dadurch waren die katholischen Mönche gezwungen, die Klosterruinen zu verlassen.

Die Einführung der Reformation in Schlat

Diese Situation nutzte Herzog Christoph von Württemberg für sich aus. Er hob das Kloster 1556 auf der Grundlage des Augsburger Religionsfriedens von 1555 auf und wandelte dessen Gebäudeüberreste in eine evangelische Klosterschule um. Gleichzeitig wurden die Pfarreien des Klosters  reformiert - so auch Schlat.
Die hier geschilderten Ereignisse widerspiegeln sich auch in der Tafel mit den Namen der evangelischen Pfarrern in der Schlater Andreas-Kirche. Der erste, dort genannte Pfarrer war Jakob Epp, der 1558 in sein Amt eingeführt worden war. Schon ein Jahr später folgte ihm Konrad Binder nach. Der nächste Pfarrerwechsel erfolgte 1565, als Urban Keller (Cellarius) nach Schlat kam und dort bis 1580 blieb. 

Tafel mit den Namen der in der Andreas-Kirche in Schlat amtierenden Pfarrer - © Jochen Falge, Schlat


Quellen und Literatur

- Konstanzer Zehnregister von 1275
- Privileg des Papstes Innozenz II. vom 14. April 1139 im Württembergisches Urkundenbuch. Dazu auch: www.michael-buhlmann.de/PDF_Texte/mbhp_va21_pdf.pdf
- Zu Richinza von Spitzenberg vgl. http://stadtarchiv-geislingen.de/wp-content/uploads/2016/01/12.-Jh.-Ludwig-von-Helfenstein.pdf) und Heinz Bühler, Richinza von Spitzenberg und ihr Verwandtenkreis. Ein Beitrag zur Geschichte der Grafen von Helfenstein, in: Ders., Adel, Klöster und Burgherren im alten Herzogtum Schwaben. Gesammelte Aufsätze, Weißenhorn 1996, S. 191-216. 


Reformation im Mittleren Filstal, Teil 4 - Der Verlauf der Reformation in Gingen

© Gabriele von Trauchburg, Juni 2017  


Am Beginn meines Konfirmandenunterrichts erklärte unser damaliger Pfarrer Emil Weiß den Ablauf der Reformation in unserem Ort. Es war eine spannende Geschichte. An Pfingsten 1531 trafen sich die Gläubigen aus sieben umliegenden Dörfern - Überkingen, Unterböhringen, Süßen, Kuchen, Hausen, Geislingen-Altenstadt und Stötten - in unserer Gingener Johanneskirche und nahmen den evangelischen Glauben an. Man stelle sich das mal vor - die Menschen aus diesen sieben Orten, die sich alle in der Gingener Kirche versammelten? Und plötzlich werden alle evangelisch? 

Während meines Studiums und in der Zeit als Dozentin an der Uni Augsburg erfuhr ich dann, dass diese einfache Geschichte, die ich im Konfirmandenunterricht gelernt hatte, noch lange nicht zu Ende war. 
Die Reformation hatte weitreichende Auswirkungen auf das Staatswesen. Das intensiv beobachtete Beispiel der Reichsstadt Augsburg zeigte die Notwendigkeit und Einführung neuer Ämter, neuer Organisationsstrukturen und neuer Vorschriften auf. Der Alltag der Zeitgenossen veränderte sich massiv. 
Das Beispiel von der Reichsstadt Augsburg vor Augen stellte ich mir damals schon die Frage, wie und in welcher Form sich eventuell die dort beobachteten Ereignisse auf das Ulmische Dorf Gingen übertragen lassen.   

Der Gingener Patronatsherr - Kardinal Albrecht von Brandenburg

Gingen - trotz seiner großen Kirche -  zunächst nicht als Unterzentrum für die Ulmische Reformation zu wählen, dafür gab es einen gewichtigen Grund: Die Kirche gehörte nämlich nicht wie die anderen umliegenden Pfarreien - Kuchen, Geislingen, Böhringen, Hausen, Stötten - zur Reichsstadt Ulm, sondern seit 1232 dem Erzbischof von Mainz, der gleichzeitig das Amt des Erzkanzler des Reiches bekleidete. Und im Jahre 1531 war Albrecht von Brandenburg Mainzer Erzbischof. 
Albrecht von Brandenburg war sowohl in der deutschen katholischen Kirche, wie auch in der Politik des Reiches der mächtigste Mann seiner Zeit. Er war Erzbischof von Magdeburg und Erzbischof von Mainz - damit unterstanden ihm 11 deutsche Bistümer - Magdeburg, Brandenburg, Havelberg, Zeitz, Merseburg, Meißen, Konstanz, Augsburg, Eichstätt und Mainz, zeitweise verwaltete er auch noch das Bistum Halberstadt.  
Als seine Residenz hatte er die Moritzburg in Halle an der Saale gewählt.
Zur Finanzierung seiner an Rom zu leistenden Abgaben im Zuge der Wahlen zum Bischof und Erzbischof ließ er sich von Papst Leo X. Ablässe genehmigen, die der Dominikanermönch Johann Tetzel offensiv und mit großem Erfolg vermarktete. 

Wegen exakt dieser Ablasspraxis des Erzbischofs Albrecht sah sich Martin Luther 1517 dazu veranlasst, seine 95 Thesen an die Wittenberger Schlosstür zu schlagen, seinetwegen kritisierte Luther den hemmungslosen Ablasshandel des Dominikanermönchs Tetzel und wegen seiner ausufernden, horrende Gelder verschlingenden Reliquiensammlung bezeichnete ihn Martin Luther als „Abgott von Halle“. Albrecht von Brandenburg ist der personifizierte Auslöser der Reformation im deutschen Reich. 

Gingen als Unterzentrum der Ulmer Reformation

Kehren wir zurück in die Ulmische Untere Herrschaft. Nach dem hitzigen Streitgespräch zwischen dem Reformator Martin Butzer und dem Geislinger Stadtpfarrer Dr. Georg Oswald an Pfingsten 1531 entschied man in Ulm, die Pfingstpredigt für die noch verbleibenden Orte kurzfristig in die Gingener Kirche - nach der Geislinger Stadtkirche die zweitgrößte Kirche der Region - zu verlegen, und das obwohl die Stadt Ulm in Gingen nicht das Patronatsrecht inne hatte, folglich auch kein Recht zur Nutzung der Kirche besaß.

Die evangelische Johanneskirche in Gingen, © GvT


Man setzte sich dabei über sämtliche rechtlichen Voraussetzungen hinweg. Aber der Ulmer Amtmann verfügte über den Kirchenschlüssel, den er sich im Verlauf der vorangegangenen Auseinandersetzungen mit dem damaligen Pfarrer Blaicher angeeignet hatte. Obwohl das Patronatsrecht nach wie vor dem Mainzer Erzbischof, Kardinal Albrecht von Brandenburg, gehörte, gab es bei dieser Maßnahme offenbar keinen Widerstand seitens des sonst so streitbaren Pfarrers Blaicher. Man weiß, dass Pfarrer Blaicher im Jahre 1531 verstorben war. Das Fehlen jeglichen Protestes legt die Vermutung nahe, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr am Leben gewesen war.
Offenbar scheute man in Ulm nicht vor möglichen negativen Konsequenzen durch den zweiten Mann im Staate - den Erzkanzler des Reichs - zurück, obwohl Albrecht von Brandenburg in dieser Funktion die Interessen des Kaisers zu vertreten hatte und Kaiser Karl V. die reformatorischen Bestrebungen völlig ablehnte.
Somit wurden die Gläubigen aus den Orten Stötten, Überkingen, Hausen, Unterböhringen, Altenstadt, Kuchen und Süßen nach Gingen beordert, wo sie die neue Predigtform von dem Straßburger Reformator Martin Butzer kennenlernten. 

Einführung der Reformation - 1. Befragung der Pfarrer im Juni 1531

Gleich nach den Pfingst-Feiertagen begann die eigentliche Einführung der Reformation im Territorium der Reichsstadt Ulm mit der Befragung ihrer Geistlichen in Stadt und Land. Am 7. Juni wurden die Pfarrer, Kapläne und Frühmesser einzeln vor die Ulmer Kommission geholt. Man stellte ihnen 18 Fragen - zur Berufung und Überprüfung der Prediger und Pfarrer, - zum Synodal- und Visitationswesen, - zur Neuordnung des Schulwesens, - zur Neuordnung der Kirchengebräuche, - zur Neuordnung der Zeremonien - und zur Kirchenzucht. Jeder einzelne Pfarrer musste seine persönliche Meinung zu jeder Frage abgeben. Seine Antworten wurden sorgfältig notiert.
Und der Gingener Pfarrer? Er war nicht erschienen. Und hier wirkt sich wieder die besondere Situation des Dorfes aus. Es gab für den Gingener Pfarrer nicht den geringsten Anlass nach Ulm zur Befragung zu reisen, denn sein Patronatsherr war der Erzbischof von Mainz und Erzkanzler des Reiches.

 

Der Ulmer Bildersturm und seine Auswirkung auf Gingen 

Die Ulmer Kirchenordnung von 1531 bildete sozusagen das ‘Grundgesetz’ für die Kirchen Ulmer Territorium, wo Ulm das Patronatsrecht besaß. Diese Gesetzessammlung wurde in den folgenden Jahren bis 1540 durch immer neue Ordnungen (= Gesetzen) ergänzt. Mit Hilfe all diese Neuerungen wurde das evangelische Verständnis vom Zusammenleben der Menschen allmählich mit Substanz ausgefüllt. 
Auch die Gestaltung des Kirchenraumes wurde neu geregelt. Ambrosius Blarer legte fest, dass alle für den Gottesdienst nicht notwendigen Gegenstände aus den Kirchen verbannt werden sollten. Dies bedeutete, dass sämtliche Heiligenbilder, Nebenaltäre und Heiligenskulpturen aus dem Kirchenraum entfernt werden mussten. Da viele von ihnen Stiftungen von Familien vor Ort waren, wurden diese aufgefordert, ihre Bilder und ähnliches abzuholen. Danach sollte die Kirche in reinem Weiß erstrahlen und die Menschen durch nichts vom Gottesdienst abgelenkt werden.
Und Gingen? In Gingen fand der sogenannte Bildersturm zunächst überhaupt nicht statt. Darüber geben die vielen Protokolle der Ulmer Kirchenvisitationen ab etwa 1540 Auskunft. Die Gründe dafür werden wir noch näher betrachten.
 

Die 2. Befragung der Pfarrer des Ulmer Territoriums im Herbst 1531 

Im Herbst 1531 wurden sämtliche Geistlichen im Territorium erneut über ihre Haltung zur Ulmer Reformation befragt. In dieser Frage-Antwort-Runde entschied sich endgültig, welcher Geistliche weiterhin im Ulmer Territorium verbleiben konnten.
Bei dieser Fragerunde findet sich überraschenderweise auch ein Protokollvermerk zu Gingen, der zusammengefasst lautet: Den Prediger zu Gingen haben die Herren Prädikanten verhört, ihn geschickt und tauglich in seinen Antworten gefunden, achten dafür, daß er wohl zu gebrauchen und mit Lehre und Leben der Kirche vorangestellt und gehört würde. Beschluss: man will es mit seinen Predigten probieren und ihn bis auf weiteres anstellen. Doch wer war dieser Prediger? 

Das Rätsel um den Gingener Prediger

Diese wenigen Sätze geben einigen Aufschluss aber auch Rätsel über die Lage in Gingen im Verlauf der Reformation auf. Zu allererst erhebt sich die Frage nach der Identität des namentlich nicht benannten Gingener Predigers. 
Bei ihm kann es sich nur um den Inhaber der Frühmess-Stelle handeln. Er war der zweite Geistliche im Dorf. Auf ihn konnte die Reichsstadt Ulm Einfluss ausüben, weil die Frühmess-Stiftung nicht dem Erzbischof von Mainz, sondern den Gingener Bürgern unterstand. Und da die Gingener Bürger Untertanen der Reichsstadt Ulm waren, konnte der Rat den Prediger examinieren und anschließend einstellen.
Gleich nach der Anstellung des Frühmessers als evangelischem Prediger im Herbst 1531 wurde dessen Stiftung von der Reichsstadt Ulm neu organisiert. Die Reichsstadt Ulm beanspruchte sämtliche Besitzrechte und Einnahmen für sich, d.h. die Stiftung wurde säkularisiert. 

Der erste evangelische Prädikant von Gingen 

Dieser erste evangelische Prädikant in Gingen war Jörg Manz. Persönliche Daten von ihm sind nicht bekannt. Angaben zu ihm finden sich lediglich in den Berichten über den Zustand der Ulmer Pfarreien wieder. Manz galt als guter Prediger, doch warf man ihm vor, dass er zu schnell sprechen und zu kurz predigen würde (Herbst 1532). Seine finanzielle Lage war schlecht, er litt unter großer Armut. Besonders negativ fiel einige Jahre später auf, dass Manz übermäßig dem Wein zusprach, seine Liebe zu Büchern hingegen beurteilte man positiv. Manz lässt sich bis 1537 als Gingener Prediger nachweisen, danach verliert sich seine Spur.

Eine konfessionell gespaltene Gemeinde

Mit der Einführung der Reformation in Gingen ergab sich eine völlig neue Situation. Es gab weiterhin einen katholischen Geistlichen in Gingen sowie einen nach der Ulmer Kirchenordnung predigenden Prädikanten. Ausgehend von dieser gegensätzlichen Lage konnten Konflikte nicht ausbleiben. 

1532 - Ein dörflicher Konflikt mit reichspolitischer Bedeutung 

Die Einsetzung von Jörg Manz im Herbst 1531 erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die Gingener Pfarrstelle durch den Tod des Pfarrers Georg Bleicher vakant gewesen war. Das Konstanzer Investiturprotokoll vom 2. Februar 1532 vermerkte über seinen Tod, das er 'in einem nichtchristlichen Land verstorben war'.
In Mainz war nun schnelles Handeln gefragt, wollte der Erzbischof weiterhin das Gingener Patronatsrecht für sich geltend machen. Zudem wäre der Verlust dieses Rechts einem Eingeständnis der Niederlage der katholischen Kirche und des zweiten Manns im Reich gegenüber der Reformation gleichgekommen. Wollte der Kardinal also weiterhin Stärke beweisen und Einfluss auf seine Pfarrei ausüben, musste er schnellstens einen neuen, vom katholischen Glauben überzeugten Priester für die Gingener Pfarrei finden. Dies gelang, denn am 2. Februar 1532 präsentierte laut Konstanzer Investiturprotokoll der Kardinal den von ihm ausgewählten Magister Artium Jodocus Bleicher. 

Das politische Tauziehen um die Gingener Pfarrei

Die Einsetzung von Jodocus Bleicher entwickelte sich zu einem politischen Tauziehen zwischen dem Kardinal und der Reichsstadt, denn der Ulmer Rat machte dieses Recht nun dem bisherigen Patronatsherren streitig. Der Rat wollte einen sich am alten, konservativen Glauben orientierten Pfarrer in seinem Dorf nicht länger akzeptieren. Daher verbot Ulm dem neuen Pfarrer Jodocus Bleicher auf seine neue Wirkungsstätte zu kommen und verhinderte die ihm zustehende Bezahlung. 
Kardinal Albrecht blieb keine andere Wahl als sich zu wehren. Er beschritt den Rechtsweg und drohte der Reichsstadt Ulm, sich an den Schwäbischen Bund zu wenden, falls sie weiterhin seine Rechte blockieren würde. Der Schwäbische Bund war das höchste Gerichtsgremium im süddeutschen Raum, das über strittige Rechte zwischen seinen Mitgliedern zu entscheiden hatte.
Die Auseinandersetzung um die Pfarrei Gingen widerspiegelt die Situation im Reich. Die katholische Kirche versuchte ihre Position zu halten, die Reformierten ihr Position auszubauen. Der Kaiser lehnte die Eigendynamik, die die Reformation entwickelt hatte, vollkommen ab und drohte sogar mit militärischen Gegenmaßnahmen. 

Das Nebeneinander zweier Religionen im Dorf

Die Lage in Gingen beruhigte sich in der Folgezeit nicht. Über das Schicksal des neuen Gingener Pfarrers lässt sich nicht viel sagen. Fest steht lediglich, dass Jodokus Blaicher sich im Dorf nicht durchsetzen konnte. Blaicher verließ Gingen und scheint seine weitere Laufbahn in Aschaffenburg, der Residenz von Kardinal Albrecht von Brandenburg, fortgesetzt zuhaben. Dort ist er jedenfalls 1542 nachweisbar, als er auf der Zahlung seiner Pension beharrte. 
Am 3. November 1534 wird der Nachfolger von Jodocus Blaicher von Martinus Hess, ein beim Konstanzer Bistum tätigen Juristen, dem dortigen Bischof präsentiert. Der neue katholische Pfarrer ist Jakob Fainger. Weitere Einzelheiten zu seiner Person oder zu seinem Wirken in Gingen sind nicht überliefert. 

Die Frühmess-Stiftung als finanzielle Grundlage der evangelischen Gingener Pfarrei

Da die Reichsstadt Ulm bei der Besoldung ihres neuen Pfarrers nicht wie sonst im Ulmer Territorium üblich auf die Einnahmen aus der Pfarrei zurückgreifen konnte, mussten die Gelder aus der von Gingener Bürgern geförderten Frühmess-Stiftung genügen. Um überhaupt die Kontrolle über deren Besitzungen zu erhalten, ließ man 1533 ein neues Verzeichnis über deren Rechte und Einnahmen anlegen. 
Aus den darin genannten Einnahmen erhielt der Prediger eine neu von der Stadt festgelegte Bezahlung. Den Rest der Einnahmen beanspruchte die Stadt Ulm für sich selbst. Die nicht verbrauchten Gelder aus diesem Stiftungsgut wurden in andere herrschaftliche Bereiche investiert.

Die Gingener Propstei 

Im Jahre 1542 gab es erneut einen Pfarrerwechsel in Gingen zu verzeichnen. Der Mainzer Erzbischof Kardinal Albrecht von Brandenburg präsentierte Johann Plum (Pflaum) auf diese Stelle. Doch obwohl Plum mehrfach versuchte, seine Stelle anzutreten, wurde er jedesmal daran gehindert. Ebenfalls aus dem Jahre 1542 existiert eine Nachricht, die besagt, dass die katholische Pfarrei Gingen zu einem bisher unbekannten Zeitpunkt in eine kleine Propstei umgewandelt worden war. Im Jahre 1542 war der bis dahin amtierende Propst verstorben und sein Nachfolger wurde feierlich in sein Amt eingeführt.
Ursprünglich ist ein Propst der erste Würdenträger eines Domkapitels - diese Funktion trifft auf Gingen eindeutig nicht zu. In der katholischen Kirche werden des weiteren klösterliche Niederlassungen als Propstei bezeichnet, die entweder eine selbstständige Abtei oder auch nur ein einzelnes, sogenanntes abhängiges Haus sein konnten. Und zuletzt kann der Titel eines Propstes in einzelnen Fällen auf den Pfarrer einer historisch bedeutsamen Pfarrei übertragen werden. 
Auf Gingen traf wohl am ehesten die Bedeutung 'abhängiges Haus' zu. Offenbar residierte dort der katholische Geistliche, der die beim alten Glauben verbliebenen Gingener Familien in allen seelsorgerischen Belangen versorgte.
Der Zeitpunkt der Gründung der Gingener Propstei lässt sich nicht mehr bestimmen. Man geht aber wohl nicht fehl in der Annahme, dass diese Rechtskonstruktion zeitnah zur Einführung der Ulmer Reformation zum Schutz von Pfarrhaus und Widdumhof gewählt worden war. Die Dauer dieser Institution lässt sich ebensowenig bestimmen. Es gibt jedoch Indizien, die deren Existenz mindestens bis nach 1565, wenn nicht sogar bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts nahelegen, wie später noch erläutert wird. 
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Das Gingener Pfarrhaus. Wahrscheinlich war hier die katholische Propstei untergebracht gewesen - © GvT

Damit tritt eine zweigegliederte - eine evangelische und eine katholische Kirchenorganisation - in Gingen zutage. Der 1542 in sein Amt eingeführte Propst Matthias Mairaich erscheint in den gesamten Ulmer Schriftquellen nirgendwo, was bedeutet, dass er keinesfalls vom Ulmer Rat in sein Amt eingesetzt worden war. Er wird jedoch in den Ulmer Visitationen als ein Mann geschildert, der gerne trank.
 

Der Schmalkaldische Krieg und das Augsburger Interim

Wie mehrfach angekündigt ging Kaiser Karl V. schließlich militärisch gegen die Reformation vor, denn die Bewegung stellte seine Position infrage. Er war also zum Handeln gezwungen gewesen. Der Krieg währte vom 10. Juli 1546 bis 23. Mai 1547. In dessen Verlauf hielt sich Kaiser Karl V. am 20. Januar 1547 in Göppingen auf und vom 21. bis 25. Januar in Geislingen. Auf seinem Weg von der einen in die andere Stadt kam er auch durch Gingen. Der Kaiser besiegte
das Schmalkaldische Bündnis - darunter auch die Reichsstadt Ulm - vernichtend. 
Auf dem anschließenden Reichstag in Augsburg 1547/48 akzeptierten die unterlegenen evangelischen Stände einen vertretbaren Kompromiss in Religionsfragen. Dieser Kompromiss, das sogenannte Augsburger Interim, beinhaltete, dass es bis zur Abhaltung eines allgemeinen Konzils für Religionsfragen Geltung besitzen sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt mussten in den evangelischen Territorien wieder Gottesdienste, Totenwachen und Begräbnisse nach katholischem Ritus durchgeführt werden. Kaiser Karl V. hatte also das Rad der Zeit zurückgedreht - nun wurden wieder flächendeckend katholische Gottesdienste gefeiert!!!   
Die Bestimmungen des Augsburger Interims wurden auch in Gingen umgesetzt. Der 1542 in Konstanz präsentierte Geistliche Johann Plum amtierte bis zur Verabschiedung des Augsburger Interims 1548 als Gingener Propst. Mit der Einführung des Augsburger Interims wurde er vom Ulmer Rat als katholischer Geistlicher vor Ort bestätigt. Ihm wurde auferlegt, dass er die Bestimmungen des Interims im Gottesdienst einzuhalten hatte und diesen Bestimmungen gemäß auch leben musste, beispielsweise unverheiratet zu sein.


1555 - Der Augsburger Religionsfriede und die neue Organisation in Gingen

Der Augsburger Religionsfriede (Confessio Augustana) beendet das Augsburger Interim von 1548. Kurz zusammengefasst war auf dem Reichstag 1555 festgelegt worden, dass künftig der politische Herrscher die Religion bestimmt (cuius regio - eius religio). Der abgeschlossene Augsburger Religionsfriede bestätigte zudem die Existenz zweier Religionen im Deutschen Reich. Dieses Reichsgesetz gilt im Allgemeinen als vorläufiger Abschluss der Reformationbewegung in Deutschland. 
Durch den Religionsfrieden konnten die evangelischen Territorien daran gehen, ihre inneren Angelegenheiten vollständig den neuen Gegebenheiten anzupassen. In der Zeit zwischen 1531 und 1555 hatten die neuen Strukturen eher Übergangscharakter besessen, somit bot sich erst nach 1555 die Gelegenheit, sämtliche Lebensbereiche im Sinne der Reformation neu zu ordnen und zu überwachen. Neue Regelungen waren im Bereich der Rechtssprechung, einer neuen gleichförmigen Gemeinde- und Kirchen-Verwaltung, der Almosenverteilung und der Überzeugung der Bevölkerung zugunsten der neuen Religion notwendig. Die meisten genannten Lebensbereiche waren bis zur Einführung der Reformation eng an die katholische Kirche gebunden gewesen.

Damit erhebt sich nun die Frage, wie es in der Gingener Pfarrer weiterging. Aufgrund des Religionsfriedens hätte Ulm die Bestimmung der Religion im Ort zugestanden. Doch die Erzbischöfe von Mainz, angefangen mit Albrecht von Brandenburg, sodann seine Nachfolger Sebastian von Heusenstamm (1545-1555), Daniel Brendel von Homburg (1555-1582), Wolfgang von Dalberg (1582-1601) und Johann Adam von Bicken (1601-1604) waren nicht bereit, die Gingener Pfarrei aufzugeben. Das beweisen die Ulmer Visitationsprotokolle. Darin kann man bis zum Beginn des 17. Jahrhundert lesen, dass die 'Götzen' in der Kirche - Statuen und Wandgemälde aus vorreformatorischer Zeit - noch immer in der Kirche sichtbar, also vorhanden waren waren.  

Das Jüngste Gericht - Wandgemälde von Martin Schaffner von 1524. Die beiden Fehlstellen im Gemälde markieren die Spitzen der beiden ehemaligen Seitenaltäre - © GvT

Der Gingener Pfarrer zwischen Interim und Religionsfriede

Seit Dezember 1553 amtierte Leonhard Hacker als von Ulm eingesetzter evangelischer Geistlicher. Der aus Hummendorf in Oberfranken stammende Leonhard Hacker hatte in Leipzig studiert, war zunächst zwischen 1535 und 1538 als Pfarrer in Überlingen tätig gewesen, wechselte dann während des Interims von 1548-1552 als Prediger ans Ulmer Münster, war zwischen 1553 und 1555 Pfarrer in Geislingen, bevor er von 1557 bis 1570 als Pfarrer in Gingen wirkte. Ulm hatte mit ihm also schon vor dem Abschluss des Augsburger Religionsfriedens wieder einen Geistlichen seiner Wahl in Stellung gebracht. Hacker war eine Kapazität. Seine erste Stelle hatte er in Überlingen versehen, wechselte dann als Prediger ins Ulmer Münster ehe er von 1553-1558 die Gingener Pfarrei führte.  
Das Beispiel des Leonhard Hacker zeigt, dass Geistliche in diesen turbulenten Jahren sehr flexibel sein mussten. Zuerst predigte er in Überlingen in reformatorischer Weise, am Ulmer Münster war er gezwungen, in katholischer Weise den Gottesdienst zu feiern, und in Gingen schließlich kehrte er zu seinen evangelischen Ursprüngen zurück.
 

1562 - Das Frühmess-Urbar

Nachdem die Spaltung der christlichen Kirche seit dem Augsburger Religionsfriede von 1555 nicht mehr umkehrbar war, die evangelische Religion sich in der Reichsstadt Ulm und im Territorium durchgesetzt hatte, konnten die Kirchenordnungen von 1531 wieder eingesetzt und weitergeschrieben werden.
Vor Ort in Gingen wurde aus diesem Grunde ein neues Frühmess-Urbar in zweifacher Ausführung angefertigt, beide Exemplar befinden sich heute im Gingener Gemeindearchiv. Die eine Ausführung ist eine Arbeitsversion - in Leder gebunden, kleines handliches Format, leicht lesbare Eintragungen. Die zweite ist ein wahres Prachtexemplar - die in dem gebundenen Besitzverzeichnis enthaltenen Informationen werden von zwei starken Buchdeckeln aus Holz zusammengehalten, die mit einer cremefarbenen Schweinshaut überzogen sind. Diese besitzt eine Prägung mit verschiedenen Motiven. 
  
Das Frühmess-Urbar von 1562 - © GvT
Im Zentrum des Buchdeckels liegt ein Rechteck mit Eicheln. Eichen und damit auch ihre Früchte gelten im Christentum als Lebensbaum, sie stehen für Glaubensstärke und werden mit der Jungfrau Maria in Verbindung gebrachte. Zusätzlich findet man die Eiche im Rechtsbereich als Symbol für Kraft, Härte und Beständigkeit.
Um die Eicheln herum legt sich ein Zierband mit den Medaillons von antiken Herrschern. Die Medaillons sind durch Bänder miteinander verbunden. Danach folgt ein schmuckloser Rahmen. Der Rahmen ist wiederum von einem Zierband umgeben, in dem mehrere Männer dargestellt sind. Inschriften und Symbole machen sie als Christus (Data est mihi), Johannes den Täufern (Ecce est agnus dei), Petrus (Tu est Petrus Super samt Schlüssel) und Apostel Paulus (Buch und Schwert) erkenntlich. Der gesamte Buchdeckel wird durch ein weiteres Schmuckband eingerahmt und fixiert. Es handelt sich hierbei also um eine in sich geschlossene Darstellung, die durch ihre Symbole sowohl den weltlichen, wie auch den kirchlichen Kosmos in sich vereint.
Genauso kostbar wie der Buchdeckel ist auch das Innenleben gestaltet. Die insgesamt 41 Blätter sind aus starkem Pergament. Die Schrift ist klar und deutlich lesbar. Am Ende findet sich dann Unterschrift und Signet des Verfassers. Es handelte sich dabei um den Stadtschreiber zu Geislingen, Jacobus Knechtlin, einem weit über die Stadtgrenzen hinaus tätigen Juristen.
Zur Zeit seiner Entstehung besaß das prächtig ausgestattete Buch einen hohen Marktwert. Diese Aussage gilt auch für die Gegenwart, denn es gehört zu den ältesten Büchern, die sich in einem Kommunalarchiv im Landkreis Göppingen erhalten haben.
Bis heute wurde dieses Besitzverzeichnis nicht vollständig ausgewertet. Familienforscher nutzten allein die Personennamen, doch der Inhalt bietet noch weitere Aspekte. Für die Zeitgenossen im Jahre 1562 bedeutete dieses Buch Rechtssicherheit in mehrerlei Hinsicht. Auffallend in den Eintragungen zu einzelnen Grundstücken ist, dass viele neue Inhaber genannt werden. Offenbar hat es hier massive Veränderungen in der Inhaberstruktur der Grundstücke gegeben. Die Hintergründe für diese zahlreichen Besitzerwechsel werden an keiner Stelle genannt.
Die Einzeleinträge folgen alle dem gleichen Schema: zuerst wird der/die Inhaber eines Grundstückes genannt, anschließend die daraus zu erwirtschaftenden Abgaben und schließlich deren Verwendungszweck. Gerade die Angaben zum Verwendungszweck enthalten erstaunliche Details. Sie wurden für Jahrtage, Vigilien (= hier vor allem das Totenamt am Abend vor einem Jahrtag) und die Besoldung von katholischen Geistlichen - Pfarrer, Frühmesser und Kaplan - ausgegeben. 

Nach den Angaben des 1562 entstandenen Besitzverzeichnisses bestanden 31 Jahre nach Einführung der Reformation im Ulmer Territorium in Gingen offensichtlich noch immer Strukturen einer katholischen Pfarrorganisation und Hinweise auf katholische Gottesdienste. Man kann also davon ausgehen, dass weiterhin ein beträchtlicher Teil der Dorfbevölkerung sich zum katholischen Glauben bekannte. Möglicherweise wurde im Vorfeld zur Aufzeichnung des Frühmess-Besitzverzeichnisses eine Umstrukturierung der Inhaber vorgenommen, so dass katholisch gebliebene Familien die hier genannten Wiesen bewirtschafteten und mit ihren Abgaben die Aufwendungen für die lange zuvor gestifteten Jahrtage finanzierten. Auf diese Weise konnte das traditionelle Totengedenken aufrecht erhalten werden. Wäre Gingen unter vollständiger Ulmer Kontrolle gewesen, hätte dieses Buch nicht neu verfasst werden dürfen, hätten die Vigilien und Jahrtage nicht mehr stattgefunden. 
Katholisch gebliebene Familien innerhalb des Ulmer Territorium waren keine Seltenheit. Sowohl in Ulm, als auch in Geislingen sind starke katholische Gemeinden nach Einführung der Reformation nachweisbar, offensichtlich gilt diese Beobachtung nun auch für Gingen. 


Der Abschluss der Reformation in Gingen

Eine neue Situation ergab sich als Johann Schweikhard von Kronberg Erzbischof von Mainz (1604-1626) wurde. Kronberg war den Protestanten gegenüber positiv eingestellt. Auch wenn sämtliche Archivalien fehlen, so deutet doch alles darauf hin, dass Erzbischof Kronberg vor 1607 auf das Patronatsrecht in Gingen zugunsten der Reichsstadt Ulm verzichtete.
Als es um 1607 zur Einigung zwischen dem Mainzer Erzbischof und der Reichsstadt Ulm bezüglich der Gingener Pfarrei gekommen war, brachte die Reichsstadt ihr Wappen an der Felderdecke an
Das Wappen der Reichsstadt Ulm an der Felderdecke in der Gingener Johanneskirche - © GvT

Wohl gleich danach muss auch der Innenraum der Kirche einer Renovierung unterzogen worden sein. Das große Wandbild vom Jüngsten Gericht wurde übertüncht. Die gotische Kanzel wurde am Chorbogen angebracht, wo zuvor ein Seitenaltar gestanden hatte, und befand sich nun - den lutherischen Vorstellungen entsprechend - beinahe in der Mitte der Kirche.  

Quellen und Literatur

- Stadtarchiv Ulm, einschlägige Akten 
- Gabriele von Trauchburg, 915-2015. Gemeinde Gingen an der Fils, Gingen 2015
- Peter Lang, Die Ulmer Katholiken zwischen Reformation und Mediatisierung (1530-1803), in: Specker, Hans Eugen/Hermann Tüchle, Kirchen und Klöster in Ulm. Ein Beitrag zum katholischen Leben in Ulm und Neu-Ulm von den Anfängen bis zur Gegenwart, Ulm 1979
- Manfred Akermann/Helmut Schmolz, Fußstapfen der Geschichte im Landkreis Göppingen. Schicksale aus 11 Jahrhunderten, Weißenhorn 1964 
- Wolfgang Wüst/Georg Kreuzer/Nicola Schümann, Der Augsburger Religionsfrieden 1555. Ein Epochenereignis und seine regionale Verankerung (ZHVS 98), Augsburg 2005
- Carl A. Hoffmann/Markus Johanns/Annette Kranz/Christof Trepesch/Oliver Zeidler (Hrsg.), Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden (Aufsätze und Katalog), Regensburg 2005
- Bernhard Appenzeller, Die Münsterprediger bis zum Übergang Ulms an Württemberg 1810, Weißenhorn 1990
- Wolfgang Jahn/Josef Kirmeier/Thomas Berger/Evamaria Brockhoff, Geld und Glaube - Leben in evangelischen Reichsstädten (Katalog), Augsburg 1998

Geschichte(n) von Gingen/Fils - Teil 1.3: Die erste bekannte Gingener Dorfherrschaft: Königin Kunigunde

© Gabriele von Trauchburg Als zweite Frau möchte ich Ihnen die deutsche Königin Kunigunde vorstellen. Sie ist diejenige Königin, die ih...