Montag, 5. Juni 2017

Reformation im Mittleren Filstal, Teil 4 - Der Verlauf der Reformation in Gingen

© Gabriele von Trauchburg, Juni 2017  


Am Beginn meines Konfirmandenunterrichts erklärte unser damaliger Pfarrer Emil Weiß den Ablauf der Reformation in unserem Ort. Es war eine spannende Geschichte. An Pfingsten 1531 trafen sich die Gläubigen aus sieben umliegenden Dörfern - Überkingen, Unterböhringen, Süßen, Kuchen, Hausen, Geislingen-Altenstadt und Stötten - in unserer Gingener Johanneskirche und nahmen den evangelischen Glauben an. Man stelle sich das mal vor - die Menschen aus diesen sieben Orten, die sich alle in der Gingener Kirche versammelten? Und plötzlich werden alle evangelisch? 

Während meines Studiums und in der Zeit als Dozentin an der Uni Augsburg erfuhr ich dann, dass diese einfache Geschichte, die ich im Konfirmandenunterricht gelernt hatte, noch lange nicht zu Ende war. 
Die Reformation hatte weitreichende Auswirkungen auf das Staatswesen. Das intensiv beobachtete Beispiel der Reichsstadt Augsburg zeigte die Notwendigkeit und Einführung neuer Ämter, neuer Organisationsstrukturen und neuer Vorschriften auf. Der Alltag der Zeitgenossen veränderte sich massiv. 
Das Beispiel von der Reichsstadt Augsburg vor Augen stellte ich mir damals schon die Frage, wie und in welcher Form sich eventuell die dort beobachteten Ereignisse auf das Ulmische Dorf Gingen übertragen lassen.   

Der Gingener Patronatsherr - Kardinal Albrecht von Brandenburg

Gingen - trotz seiner großen Kirche -  zunächst nicht als Unterzentrum für die Ulmische Reformation zu wählen, dafür gab es einen gewichtigen Grund: Die Kirche gehörte nämlich nicht wie die anderen umliegenden Pfarreien - Kuchen, Geislingen, Böhringen, Hausen, Stötten - zur Reichsstadt Ulm, sondern seit 1232 dem Erzbischof von Mainz, der gleichzeitig das Amt des Erzkanzler des Reiches bekleidete. Und im Jahre 1531 war Albrecht von Brandenburg Mainzer Erzbischof. 
Albrecht von Brandenburg war sowohl in der deutschen katholischen Kirche, wie auch in der Politik des Reiches der mächtigste Mann seiner Zeit. Er war Erzbischof von Magdeburg und Erzbischof von Mainz - damit unterstanden ihm 11 deutsche Bistümer - Magdeburg, Brandenburg, Havelberg, Zeitz, Merseburg, Meißen, Konstanz, Augsburg, Eichstätt und Mainz, zeitweise verwaltete er auch noch das Bistum Halberstadt.  
Als seine Residenz hatte er die Moritzburg in Halle an der Saale gewählt.
Zur Finanzierung seiner an Rom zu leistenden Abgaben im Zuge der Wahlen zum Bischof und Erzbischof ließ er sich von Papst Leo X. Ablässe genehmigen, die der Dominikanermönch Johann Tetzel offensiv und mit großem Erfolg vermarktete. 

Wegen exakt dieser Ablasspraxis des Erzbischofs Albrecht sah sich Martin Luther 1517 dazu veranlasst, seine 95 Thesen an die Wittenberger Schlosstür zu schlagen, seinetwegen kritisierte Luther den hemmungslosen Ablasshandel des Dominikanermönchs Tetzel und wegen seiner ausufernden, horrende Gelder verschlingenden Reliquiensammlung bezeichnete ihn Martin Luther als „Abgott von Halle“. Albrecht von Brandenburg ist der personifizierte Auslöser der Reformation im deutschen Reich. 

Gingen als Unterzentrum der Ulmer Reformation

Kehren wir zurück in die Ulmische Untere Herrschaft. Nach dem hitzigen Streitgespräch zwischen dem Reformator Martin Butzer und dem Geislinger Stadtpfarrer Dr. Georg Oswald an Pfingsten 1531 entschied man in Ulm, die Pfingstpredigt für die noch verbleibenden Orte kurzfristig in die Gingener Kirche - nach der Geislinger Stadtkirche die zweitgrößte Kirche der Region - zu verlegen, und das obwohl die Stadt Ulm in Gingen nicht das Patronatsrecht inne hatte, folglich auch kein Recht zur Nutzung der Kirche besaß.

Die evangelische Johanneskirche in Gingen, © GvT


Man setzte sich dabei über sämtliche rechtlichen Voraussetzungen hinweg. Aber der Ulmer Amtmann verfügte über den Kirchenschlüssel, den er sich im Verlauf der vorangegangenen Auseinandersetzungen mit dem damaligen Pfarrer Blaicher angeeignet hatte. Obwohl das Patronatsrecht nach wie vor dem Mainzer Erzbischof, Kardinal Albrecht von Brandenburg, gehörte, gab es bei dieser Maßnahme offenbar keinen Widerstand seitens des sonst so streitbaren Pfarrers Blaicher. Man weiß, dass Pfarrer Blaicher im Jahre 1531 verstorben war. Das Fehlen jeglichen Protestes legt die Vermutung nahe, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr am Leben gewesen war.
Offenbar scheute man in Ulm nicht vor möglichen negativen Konsequenzen durch den zweiten Mann im Staate - den Erzkanzler des Reichs - zurück, obwohl Albrecht von Brandenburg in dieser Funktion die Interessen des Kaisers zu vertreten hatte und Kaiser Karl V. die reformatorischen Bestrebungen völlig ablehnte.
Somit wurden die Gläubigen aus den Orten Stötten, Überkingen, Hausen, Unterböhringen, Altenstadt, Kuchen und Süßen nach Gingen beordert, wo sie die neue Predigtform von dem Straßburger Reformator Martin Butzer kennenlernten. 

Einführung der Reformation - 1. Befragung der Pfarrer im Juni 1531

Gleich nach den Pfingst-Feiertagen begann die eigentliche Einführung der Reformation im Territorium der Reichsstadt Ulm mit der Befragung ihrer Geistlichen in Stadt und Land. Am 7. Juni wurden die Pfarrer, Kapläne und Frühmesser einzeln vor die Ulmer Kommission geholt. Man stellte ihnen 18 Fragen - zur Berufung und Überprüfung der Prediger und Pfarrer, - zum Synodal- und Visitationswesen, - zur Neuordnung des Schulwesens, - zur Neuordnung der Kirchengebräuche, - zur Neuordnung der Zeremonien - und zur Kirchenzucht. Jeder einzelne Pfarrer musste seine persönliche Meinung zu jeder Frage abgeben. Seine Antworten wurden sorgfältig notiert.
Und der Gingener Pfarrer? Er war nicht erschienen. Und hier wirkt sich wieder die besondere Situation des Dorfes aus. Es gab für den Gingener Pfarrer nicht den geringsten Anlass nach Ulm zur Befragung zu reisen, denn sein Patronatsherr war der Erzbischof von Mainz und Erzkanzler des Reiches.

 

Der Ulmer Bildersturm und seine Auswirkung auf Gingen 

Die Ulmer Kirchenordnung von 1531 bildete sozusagen das ‘Grundgesetz’ für die Kirchen Ulmer Territorium, wo Ulm das Patronatsrecht besaß. Diese Gesetzessammlung wurde in den folgenden Jahren bis 1540 durch immer neue Ordnungen (= Gesetzen) ergänzt. Mit Hilfe all diese Neuerungen wurde das evangelische Verständnis vom Zusammenleben der Menschen allmählich mit Substanz ausgefüllt. 
Auch die Gestaltung des Kirchenraumes wurde neu geregelt. Ambrosius Blarer legte fest, dass alle für den Gottesdienst nicht notwendigen Gegenstände aus den Kirchen verbannt werden sollten. Dies bedeutete, dass sämtliche Heiligenbilder, Nebenaltäre und Heiligenskulpturen aus dem Kirchenraum entfernt werden mussten. Da viele von ihnen Stiftungen von Familien vor Ort waren, wurden diese aufgefordert, ihre Bilder und ähnliches abzuholen. Danach sollte die Kirche in reinem Weiß erstrahlen und die Menschen durch nichts vom Gottesdienst abgelenkt werden.
Und Gingen? In Gingen fand der sogenannte Bildersturm zunächst überhaupt nicht statt. Darüber geben die vielen Protokolle der Ulmer Kirchenvisitationen ab etwa 1540 Auskunft. Die Gründe dafür werden wir noch näher betrachten.
 

Die 2. Befragung der Pfarrer des Ulmer Territoriums im Herbst 1531 

Im Herbst 1531 wurden sämtliche Geistlichen im Territorium erneut über ihre Haltung zur Ulmer Reformation befragt. In dieser Frage-Antwort-Runde entschied sich endgültig, welcher Geistliche weiterhin im Ulmer Territorium verbleiben konnten.
Bei dieser Fragerunde findet sich überraschenderweise auch ein Protokollvermerk zu Gingen, der zusammengefasst lautet: Den Prediger zu Gingen haben die Herren Prädikanten verhört, ihn geschickt und tauglich in seinen Antworten gefunden, achten dafür, daß er wohl zu gebrauchen und mit Lehre und Leben der Kirche vorangestellt und gehört würde. Beschluss: man will es mit seinen Predigten probieren und ihn bis auf weiteres anstellen. Doch wer war dieser Prediger? 

Das Rätsel um den Gingener Prediger

Diese wenigen Sätze geben einigen Aufschluss aber auch Rätsel über die Lage in Gingen im Verlauf der Reformation auf. Zu allererst erhebt sich die Frage nach der Identität des namentlich nicht benannten Gingener Predigers. 
Bei ihm kann es sich nur um den Inhaber der Frühmess-Stelle handeln. Er war der zweite Geistliche im Dorf. Auf ihn konnte die Reichsstadt Ulm Einfluss ausüben, weil die Frühmess-Stiftung nicht dem Erzbischof von Mainz, sondern den Gingener Bürgern unterstand. Und da die Gingener Bürger Untertanen der Reichsstadt Ulm waren, konnte der Rat den Prediger examinieren und anschließend einstellen.
Gleich nach der Anstellung des Frühmessers als evangelischem Prediger im Herbst 1531 wurde dessen Stiftung von der Reichsstadt Ulm neu organisiert. Die Reichsstadt Ulm beanspruchte sämtliche Besitzrechte und Einnahmen für sich, d.h. die Stiftung wurde säkularisiert. 

Der erste evangelische Prädikant von Gingen 

Dieser erste evangelische Prädikant in Gingen war Jörg Manz. Persönliche Daten von ihm sind nicht bekannt. Angaben zu ihm finden sich lediglich in den Berichten über den Zustand der Ulmer Pfarreien wieder. Manz galt als guter Prediger, doch warf man ihm vor, dass er zu schnell sprechen und zu kurz predigen würde (Herbst 1532). Seine finanzielle Lage war schlecht, er litt unter großer Armut. Besonders negativ fiel einige Jahre später auf, dass Manz übermäßig dem Wein zusprach, seine Liebe zu Büchern hingegen beurteilte man positiv. Manz lässt sich bis 1537 als Gingener Prediger nachweisen, danach verliert sich seine Spur.

Eine konfessionell gespaltene Gemeinde

Mit der Einführung der Reformation in Gingen ergab sich eine völlig neue Situation. Es gab weiterhin einen katholischen Geistlichen in Gingen sowie einen nach der Ulmer Kirchenordnung predigenden Prädikanten. Ausgehend von dieser gegensätzlichen Lage konnten Konflikte nicht ausbleiben. 

1532 - Ein dörflicher Konflikt mit reichspolitischer Bedeutung 

Die Einsetzung von Jörg Manz im Herbst 1531 erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die Gingener Pfarrstelle durch den Tod des Pfarrers Georg Bleicher vakant gewesen war. Das Konstanzer Investiturprotokoll vom 2. Februar 1532 vermerkte über seinen Tod, das er 'in einem nichtchristlichen Land verstorben war'.
In Mainz war nun schnelles Handeln gefragt, wollte der Erzbischof weiterhin das Gingener Patronatsrecht für sich geltend machen. Zudem wäre der Verlust dieses Rechts einem Eingeständnis der Niederlage der katholischen Kirche und des zweiten Manns im Reich gegenüber der Reformation gleichgekommen. Wollte der Kardinal also weiterhin Stärke beweisen und Einfluss auf seine Pfarrei ausüben, musste er schnellstens einen neuen, vom katholischen Glauben überzeugten Priester für die Gingener Pfarrei finden. Dies gelang, denn am 2. Februar 1532 präsentierte laut Konstanzer Investiturprotokoll der Kardinal den von ihm ausgewählten Magister Artium Jodocus Bleicher. 

Das politische Tauziehen um die Gingener Pfarrei

Die Einsetzung von Jodocus Bleicher entwickelte sich zu einem politischen Tauziehen zwischen dem Kardinal und der Reichsstadt, denn der Ulmer Rat machte dieses Recht nun dem bisherigen Patronatsherren streitig. Der Rat wollte einen sich am alten, konservativen Glauben orientierten Pfarrer in seinem Dorf nicht länger akzeptieren. Daher verbot Ulm dem neuen Pfarrer Jodocus Bleicher auf seine neue Wirkungsstätte zu kommen und verhinderte die ihm zustehende Bezahlung. 
Kardinal Albrecht blieb keine andere Wahl als sich zu wehren. Er beschritt den Rechtsweg und drohte der Reichsstadt Ulm, sich an den Schwäbischen Bund zu wenden, falls sie weiterhin seine Rechte blockieren würde. Der Schwäbische Bund war das höchste Gerichtsgremium im süddeutschen Raum, das über strittige Rechte zwischen seinen Mitgliedern zu entscheiden hatte.
Die Auseinandersetzung um die Pfarrei Gingen widerspiegelt die Situation im Reich. Die katholische Kirche versuchte ihre Position zu halten, die Reformierten ihr Position auszubauen. Der Kaiser lehnte die Eigendynamik, die die Reformation entwickelt hatte, vollkommen ab und drohte sogar mit militärischen Gegenmaßnahmen. 

Das Nebeneinander zweier Religionen im Dorf

Die Lage in Gingen beruhigte sich in der Folgezeit nicht. Über das Schicksal des neuen Gingener Pfarrers lässt sich nicht viel sagen. Fest steht lediglich, dass Jodokus Blaicher sich im Dorf nicht durchsetzen konnte. Blaicher verließ Gingen und scheint seine weitere Laufbahn in Aschaffenburg, der Residenz von Kardinal Albrecht von Brandenburg, fortgesetzt zuhaben. Dort ist er jedenfalls 1542 nachweisbar, als er auf der Zahlung seiner Pension beharrte. 
Am 3. November 1534 wird der Nachfolger von Jodocus Blaicher von Martinus Hess, ein beim Konstanzer Bistum tätigen Juristen, dem dortigen Bischof präsentiert. Der neue katholische Pfarrer ist Jakob Fainger. Weitere Einzelheiten zu seiner Person oder zu seinem Wirken in Gingen sind nicht überliefert. 

Die Frühmess-Stiftung als finanzielle Grundlage der evangelischen Gingener Pfarrei

Da die Reichsstadt Ulm bei der Besoldung ihres neuen Pfarrers nicht wie sonst im Ulmer Territorium üblich auf die Einnahmen aus der Pfarrei zurückgreifen konnte, mussten die Gelder aus der von Gingener Bürgern geförderten Frühmess-Stiftung genügen. Um überhaupt die Kontrolle über deren Besitzungen zu erhalten, ließ man 1533 ein neues Verzeichnis über deren Rechte und Einnahmen anlegen. 
Aus den darin genannten Einnahmen erhielt der Prediger eine neu von der Stadt festgelegte Bezahlung. Den Rest der Einnahmen beanspruchte die Stadt Ulm für sich selbst. Die nicht verbrauchten Gelder aus diesem Stiftungsgut wurden in andere herrschaftliche Bereiche investiert.

Die Gingener Propstei 

Im Jahre 1542 gab es erneut einen Pfarrerwechsel in Gingen zu verzeichnen. Der Mainzer Erzbischof Kardinal Albrecht von Brandenburg präsentierte Johann Plum (Pflaum) auf diese Stelle. Doch obwohl Plum mehrfach versuchte, seine Stelle anzutreten, wurde er jedesmal daran gehindert. Ebenfalls aus dem Jahre 1542 existiert eine Nachricht, die besagt, dass die katholische Pfarrei Gingen zu einem bisher unbekannten Zeitpunkt in eine kleine Propstei umgewandelt worden war. Im Jahre 1542 war der bis dahin amtierende Propst verstorben und sein Nachfolger wurde feierlich in sein Amt eingeführt.
Ursprünglich ist ein Propst der erste Würdenträger eines Domkapitels - diese Funktion trifft auf Gingen eindeutig nicht zu. In der katholischen Kirche werden des weiteren klösterliche Niederlassungen als Propstei bezeichnet, die entweder eine selbstständige Abtei oder auch nur ein einzelnes, sogenanntes abhängiges Haus sein konnten. Und zuletzt kann der Titel eines Propstes in einzelnen Fällen auf den Pfarrer einer historisch bedeutsamen Pfarrei übertragen werden. 
Auf Gingen traf wohl am ehesten die Bedeutung 'abhängiges Haus' zu. Offenbar residierte dort der katholische Geistliche, der die beim alten Glauben verbliebenen Gingener Familien in allen seelsorgerischen Belangen versorgte.
Der Zeitpunkt der Gründung der Gingener Propstei lässt sich nicht mehr bestimmen. Man geht aber wohl nicht fehl in der Annahme, dass diese Rechtskonstruktion zeitnah zur Einführung der Ulmer Reformation zum Schutz von Pfarrhaus und Widdumhof gewählt worden war. Die Dauer dieser Institution lässt sich ebensowenig bestimmen. Es gibt jedoch Indizien, die deren Existenz mindestens bis nach 1565, wenn nicht sogar bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts nahelegen, wie später noch erläutert wird. 
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Das Gingener Pfarrhaus. Wahrscheinlich war hier die katholische Propstei untergebracht gewesen - © GvT

Damit tritt eine zweigegliederte - eine evangelische und eine katholische Kirchenorganisation - in Gingen zutage. Der 1542 in sein Amt eingeführte Propst Matthias Mairaich erscheint in den gesamten Ulmer Schriftquellen nirgendwo, was bedeutet, dass er keinesfalls vom Ulmer Rat in sein Amt eingesetzt worden war. Er wird jedoch in den Ulmer Visitationen als ein Mann geschildert, der gerne trank.
 

Der Schmalkaldische Krieg und das Augsburger Interim

Wie mehrfach angekündigt ging Kaiser Karl V. schließlich militärisch gegen die Reformation vor, denn die Bewegung stellte seine Position infrage. Er war also zum Handeln gezwungen gewesen. Der Krieg währte vom 10. Juli 1546 bis 23. Mai 1547. In dessen Verlauf hielt sich Kaiser Karl V. am 20. Januar 1547 in Göppingen auf und vom 21. bis 25. Januar in Geislingen. Auf seinem Weg von der einen in die andere Stadt kam er auch durch Gingen. Der Kaiser besiegte
das Schmalkaldische Bündnis - darunter auch die Reichsstadt Ulm - vernichtend. 
Auf dem anschließenden Reichstag in Augsburg 1547/48 akzeptierten die unterlegenen evangelischen Stände einen vertretbaren Kompromiss in Religionsfragen. Dieser Kompromiss, das sogenannte Augsburger Interim, beinhaltete, dass es bis zur Abhaltung eines allgemeinen Konzils für Religionsfragen Geltung besitzen sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt mussten in den evangelischen Territorien wieder Gottesdienste, Totenwachen und Begräbnisse nach katholischem Ritus durchgeführt werden. Kaiser Karl V. hatte also das Rad der Zeit zurückgedreht - nun wurden wieder flächendeckend katholische Gottesdienste gefeiert!!!   
Die Bestimmungen des Augsburger Interims wurden auch in Gingen umgesetzt. Der 1542 in Konstanz präsentierte Geistliche Johann Plum amtierte bis zur Verabschiedung des Augsburger Interims 1548 als Gingener Propst. Mit der Einführung des Augsburger Interims wurde er vom Ulmer Rat als katholischer Geistlicher vor Ort bestätigt. Ihm wurde auferlegt, dass er die Bestimmungen des Interims im Gottesdienst einzuhalten hatte und diesen Bestimmungen gemäß auch leben musste, beispielsweise unverheiratet zu sein.


1555 - Der Augsburger Religionsfriede und die neue Organisation in Gingen

Der Augsburger Religionsfriede (Confessio Augustana) beendet das Augsburger Interim von 1548. Kurz zusammengefasst war auf dem Reichstag 1555 festgelegt worden, dass künftig der politische Herrscher die Religion bestimmt (cuius regio - eius religio). Der abgeschlossene Augsburger Religionsfriede bestätigte zudem die Existenz zweier Religionen im Deutschen Reich. Dieses Reichsgesetz gilt im Allgemeinen als vorläufiger Abschluss der Reformationbewegung in Deutschland. 
Durch den Religionsfrieden konnten die evangelischen Territorien daran gehen, ihre inneren Angelegenheiten vollständig den neuen Gegebenheiten anzupassen. In der Zeit zwischen 1531 und 1555 hatten die neuen Strukturen eher Übergangscharakter besessen, somit bot sich erst nach 1555 die Gelegenheit, sämtliche Lebensbereiche im Sinne der Reformation neu zu ordnen und zu überwachen. Neue Regelungen waren im Bereich der Rechtssprechung, einer neuen gleichförmigen Gemeinde- und Kirchen-Verwaltung, der Almosenverteilung und der Überzeugung der Bevölkerung zugunsten der neuen Religion notwendig. Die meisten genannten Lebensbereiche waren bis zur Einführung der Reformation eng an die katholische Kirche gebunden gewesen.

Damit erhebt sich nun die Frage, wie es in der Gingener Pfarrer weiterging. Aufgrund des Religionsfriedens hätte Ulm die Bestimmung der Religion im Ort zugestanden. Doch die Erzbischöfe von Mainz, angefangen mit Albrecht von Brandenburg, sodann seine Nachfolger Sebastian von Heusenstamm (1545-1555), Daniel Brendel von Homburg (1555-1582), Wolfgang von Dalberg (1582-1601) und Johann Adam von Bicken (1601-1604) waren nicht bereit, die Gingener Pfarrei aufzugeben. Das beweisen die Ulmer Visitationsprotokolle. Darin kann man bis zum Beginn des 17. Jahrhundert lesen, dass die 'Götzen' in der Kirche - Statuen und Wandgemälde aus vorreformatorischer Zeit - noch immer in der Kirche sichtbar, also vorhanden waren waren.  

Das Jüngste Gericht - Wandgemälde von Martin Schaffner von 1524. Die beiden Fehlstellen im Gemälde markieren die Spitzen der beiden ehemaligen Seitenaltäre - © GvT

Der Gingener Pfarrer zwischen Interim und Religionsfriede

Seit Dezember 1553 amtierte Leonhard Hacker als von Ulm eingesetzter evangelischer Geistlicher. Der aus Hummendorf in Oberfranken stammende Leonhard Hacker hatte in Leipzig studiert, war zunächst zwischen 1535 und 1538 als Pfarrer in Überlingen tätig gewesen, wechselte dann während des Interims von 1548-1552 als Prediger ans Ulmer Münster, war zwischen 1553 und 1555 Pfarrer in Geislingen, bevor er von 1557 bis 1570 als Pfarrer in Gingen wirkte. Ulm hatte mit ihm also schon vor dem Abschluss des Augsburger Religionsfriedens wieder einen Geistlichen seiner Wahl in Stellung gebracht. Hacker war eine Kapazität. Seine erste Stelle hatte er in Überlingen versehen, wechselte dann als Prediger ins Ulmer Münster ehe er von 1553-1558 die Gingener Pfarrei führte.  
Das Beispiel des Leonhard Hacker zeigt, dass Geistliche in diesen turbulenten Jahren sehr flexibel sein mussten. Zuerst predigte er in Überlingen in reformatorischer Weise, am Ulmer Münster war er gezwungen, in katholischer Weise den Gottesdienst zu feiern, und in Gingen schließlich kehrte er zu seinen evangelischen Ursprüngen zurück.
 

1562 - Das Frühmess-Urbar

Nachdem die Spaltung der christlichen Kirche seit dem Augsburger Religionsfriede von 1555 nicht mehr umkehrbar war, die evangelische Religion sich in der Reichsstadt Ulm und im Territorium durchgesetzt hatte, konnten die Kirchenordnungen von 1531 wieder eingesetzt und weitergeschrieben werden.
Vor Ort in Gingen wurde aus diesem Grunde ein neues Frühmess-Urbar in zweifacher Ausführung angefertigt, beide Exemplar befinden sich heute im Gingener Gemeindearchiv. Die eine Ausführung ist eine Arbeitsversion - in Leder gebunden, kleines handliches Format, leicht lesbare Eintragungen. Die zweite ist ein wahres Prachtexemplar - die in dem gebundenen Besitzverzeichnis enthaltenen Informationen werden von zwei starken Buchdeckeln aus Holz zusammengehalten, die mit einer cremefarbenen Schweinshaut überzogen sind. Diese besitzt eine Prägung mit verschiedenen Motiven. 
  
Das Frühmess-Urbar von 1562 - © GvT
Im Zentrum des Buchdeckels liegt ein Rechteck mit Eicheln. Eichen und damit auch ihre Früchte gelten im Christentum als Lebensbaum, sie stehen für Glaubensstärke und werden mit der Jungfrau Maria in Verbindung gebrachte. Zusätzlich findet man die Eiche im Rechtsbereich als Symbol für Kraft, Härte und Beständigkeit.
Um die Eicheln herum legt sich ein Zierband mit den Medaillons von antiken Herrschern. Die Medaillons sind durch Bänder miteinander verbunden. Danach folgt ein schmuckloser Rahmen. Der Rahmen ist wiederum von einem Zierband umgeben, in dem mehrere Männer dargestellt sind. Inschriften und Symbole machen sie als Christus (Data est mihi), Johannes den Täufern (Ecce est agnus dei), Petrus (Tu est Petrus Super samt Schlüssel) und Apostel Paulus (Buch und Schwert) erkenntlich. Der gesamte Buchdeckel wird durch ein weiteres Schmuckband eingerahmt und fixiert. Es handelt sich hierbei also um eine in sich geschlossene Darstellung, die durch ihre Symbole sowohl den weltlichen, wie auch den kirchlichen Kosmos in sich vereint.
Genauso kostbar wie der Buchdeckel ist auch das Innenleben gestaltet. Die insgesamt 41 Blätter sind aus starkem Pergament. Die Schrift ist klar und deutlich lesbar. Am Ende findet sich dann Unterschrift und Signet des Verfassers. Es handelte sich dabei um den Stadtschreiber zu Geislingen, Jacobus Knechtlin, einem weit über die Stadtgrenzen hinaus tätigen Juristen.
Zur Zeit seiner Entstehung besaß das prächtig ausgestattete Buch einen hohen Marktwert. Diese Aussage gilt auch für die Gegenwart, denn es gehört zu den ältesten Büchern, die sich in einem Kommunalarchiv im Landkreis Göppingen erhalten haben.
Bis heute wurde dieses Besitzverzeichnis nicht vollständig ausgewertet. Familienforscher nutzten allein die Personennamen, doch der Inhalt bietet noch weitere Aspekte. Für die Zeitgenossen im Jahre 1562 bedeutete dieses Buch Rechtssicherheit in mehrerlei Hinsicht. Auffallend in den Eintragungen zu einzelnen Grundstücken ist, dass viele neue Inhaber genannt werden. Offenbar hat es hier massive Veränderungen in der Inhaberstruktur der Grundstücke gegeben. Die Hintergründe für diese zahlreichen Besitzerwechsel werden an keiner Stelle genannt.
Die Einzeleinträge folgen alle dem gleichen Schema: zuerst wird der/die Inhaber eines Grundstückes genannt, anschließend die daraus zu erwirtschaftenden Abgaben und schließlich deren Verwendungszweck. Gerade die Angaben zum Verwendungszweck enthalten erstaunliche Details. Sie wurden für Jahrtage, Vigilien (= hier vor allem das Totenamt am Abend vor einem Jahrtag) und die Besoldung von katholischen Geistlichen - Pfarrer, Frühmesser und Kaplan - ausgegeben. 

Nach den Angaben des 1562 entstandenen Besitzverzeichnisses bestanden 31 Jahre nach Einführung der Reformation im Ulmer Territorium in Gingen offensichtlich noch immer Strukturen einer katholischen Pfarrorganisation und Hinweise auf katholische Gottesdienste. Man kann also davon ausgehen, dass weiterhin ein beträchtlicher Teil der Dorfbevölkerung sich zum katholischen Glauben bekannte. Möglicherweise wurde im Vorfeld zur Aufzeichnung des Frühmess-Besitzverzeichnisses eine Umstrukturierung der Inhaber vorgenommen, so dass katholisch gebliebene Familien die hier genannten Wiesen bewirtschafteten und mit ihren Abgaben die Aufwendungen für die lange zuvor gestifteten Jahrtage finanzierten. Auf diese Weise konnte das traditionelle Totengedenken aufrecht erhalten werden. Wäre Gingen unter vollständiger Ulmer Kontrolle gewesen, hätte dieses Buch nicht neu verfasst werden dürfen, hätten die Vigilien und Jahrtage nicht mehr stattgefunden. 
Katholisch gebliebene Familien innerhalb des Ulmer Territorium waren keine Seltenheit. Sowohl in Ulm, als auch in Geislingen sind starke katholische Gemeinden nach Einführung der Reformation nachweisbar, offensichtlich gilt diese Beobachtung nun auch für Gingen. 


Der Abschluss der Reformation in Gingen

Eine neue Situation ergab sich als Johann Schweikhard von Kronberg Erzbischof von Mainz (1604-1626) wurde. Kronberg war den Protestanten gegenüber positiv eingestellt. Auch wenn sämtliche Archivalien fehlen, so deutet doch alles darauf hin, dass Erzbischof Kronberg vor 1607 auf das Patronatsrecht in Gingen zugunsten der Reichsstadt Ulm verzichtete.
Als es um 1607 zur Einigung zwischen dem Mainzer Erzbischof und der Reichsstadt Ulm bezüglich der Gingener Pfarrei gekommen war, brachte die Reichsstadt ihr Wappen an der Felderdecke an
Das Wappen der Reichsstadt Ulm an der Felderdecke in der Gingener Johanneskirche - © GvT

Wohl gleich danach muss auch der Innenraum der Kirche einer Renovierung unterzogen worden sein. Das große Wandbild vom Jüngsten Gericht wurde übertüncht. Die gotische Kanzel wurde am Chorbogen angebracht, wo zuvor ein Seitenaltar gestanden hatte, und befand sich nun - den lutherischen Vorstellungen entsprechend - beinahe in der Mitte der Kirche.  

Quellen und Literatur

- Stadtarchiv Ulm, einschlägige Akten 
- Gabriele von Trauchburg, 915-2015. Gemeinde Gingen an der Fils, Gingen 2015
- Peter Lang, Die Ulmer Katholiken zwischen Reformation und Mediatisierung (1530-1803), in: Specker, Hans Eugen/Hermann Tüchle, Kirchen und Klöster in Ulm. Ein Beitrag zum katholischen Leben in Ulm und Neu-Ulm von den Anfängen bis zur Gegenwart, Ulm 1979
- Manfred Akermann/Helmut Schmolz, Fußstapfen der Geschichte im Landkreis Göppingen. Schicksale aus 11 Jahrhunderten, Weißenhorn 1964 
- Wolfgang Wüst/Georg Kreuzer/Nicola Schümann, Der Augsburger Religionsfrieden 1555. Ein Epochenereignis und seine regionale Verankerung (ZHVS 98), Augsburg 2005
- Carl A. Hoffmann/Markus Johanns/Annette Kranz/Christof Trepesch/Oliver Zeidler (Hrsg.), Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden (Aufsätze und Katalog), Regensburg 2005
- Bernhard Appenzeller, Die Münsterprediger bis zum Übergang Ulms an Württemberg 1810, Weißenhorn 1990
- Wolfgang Jahn/Josef Kirmeier/Thomas Berger/Evamaria Brockhoff, Geld und Glaube - Leben in evangelischen Reichsstädten (Katalog), Augsburg 1998

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