Teil 8: Eine hochbrisante Gegenpropaganda zur Reformation in der Gingener Johanneskirche
In Gingen entstand 1524 in der nur wenige Jahre zuvor vergrößerten Dorfkirche - seit 1963 die Johanneskirche - ein großes Wandgemälde. Seit seiner Wiederentdeckung in der ersten Hälfte der 1960er Jahre gelang zwar die Identifizierung der einzelnen Elemente dieses Bildes, die Brisanz dieses Bildes wurde jedoch erstmals in der Gingener Ortsgeschichte von 2015 vorgestellt.
Das Aussehen der Gingener Johannes-Kirche vor 1524
Anhand mehrerer Jahreszahlen kann man das Aussehen der Gingener Dorfkirche vor 1524 exakt beschreiben. Bis zum Jahre 1463 besaß die Kirche nur einen im Turmquadrat eingebauten Chor. Diese architektonische Form findet man bis heute in zahlreichen alten Kirchen in der Region, z.B. in Unterweckerstell und in Oberwälden.Dann begann die erste große Umbauphase, wie der Türsturz über dem Eingang zur Sakristei zeigt. Im Jahre 1463 hatte man die dicken Mauern des Turm aus dem 13. Jahrhundert geöffnet - zum einen für eine Sakristei, und zum anderen für die Verlängerung des Chors in Richtung Osten.
Über den Baumeister und den Bauherrn gibt es keine schriftlichen Belege, doch geben hier zwei Wappen und zwei Köpfe zumindest ein paar wenige Hinweise. Im Chor stützt sich das Gewölbe auf Konsolen. Man findet dort auf der Nordseite das Wappen der adeligen Familien von Leimberg, die ihren Familiensitz im oberen Filstal hatte. Auf der Südseite und genau gegenüber ist das Wappen der Reichsstadt Ulm angebracht. Auf zwei weiteren Konsolen ist auf der Nordseite ein Mann mit einer Kappe und auf der Südseite ein Mann mit Tonsur zu sehen. Möglicherweise handelt es sich hier um den Baumeister und den Auftraggeber.
Die nächste Baumaßnahme umfasste die Innengestaltung des Chores. An den Turmwänden im Süden und Norden entstanden Darstellungen der vier Kirchenväter. In der Nordwand des Chores hatte man zusätzlich eine Sakramentsnische eingerichtet. Diese wurde dann 1487 mit einer illusionistischen Malerei überwiegend in Grün-, Weiß- und Gelbtönen eingefasst.
Mit der Bemalung des Chores war die erste Bauphase abgeschlossen. Das Aussehen der Kirche entsprach nun den gängigen Vorstellungen: im Chor, dem Wirkungsort der Geistlichkeit, erinnerten die Bilder an ihre Bestimmung und an ihre Aufgaben als Geistliche. Im Hauptraum, dem Langhause, wurde die Gemeinde Zeuge der religiösen Handlungen im Chor.
Im Jahre 1512 wurde das Langhaus vergrößert. Die Veränderungen bei der Breite lassen sich seit dem Einsetzen des Inschriftensteins vom Jahre 915 im Zuge der Vorbereitungen auf das 1000jährige Jubiläum der Johanneskirche 1984 auf der nördlichen Ostwand des Langhauses erkennen, als damals im Zuge der Bauarbeiten der Abschluss der alten Außenmauer entdeckt und freigelegt wurde. Nach Abschluss der Maurerarbeiten wurde 1512 der Dachstuhl steiler als zuvor aufgerichtet und die Felderdecke eingezogen.
Das zeitliche Umfeld
Über den Entstehungszeitraum des monumentalten Wandgemäldes im Langhaus der Gingener Dorfkirche geben die beiden rechts und links neben dem Chorbogen aufgebrachten Jahreszahlen genauen Aufschluss. Es entstand 1524.Datierung des Wandgemäldes 'Jüngstes Gericht' in der Johanneskirche in Gingen/Fils - © GvT |
Die Vorgänge in der Schweiz waren im süddeutschen Raum nicht verborgen geblieben, denn Ulm und Memmingen besaßen enge Handelskontakte in die Schweiz. Zudem gehörte sowohl Ulm wie auch Zürich zum Bistum Konstanz. Es verwundert daher nicht, dass reformatorische Forderungen auch im restlichen Süddeutschland laut wurden. Ab 1523/24 zeigten die neuen Lehren in breiten Bevölkerungsschichten Wirkung. Am 22. Mai 1524 konfrontierte die Bürgerschaft den konservativen Ulmer Rat mit der Forderung nach der Anstellung eines evangelischen Prädikanten. Dieser konnte dem Begehren zwar nicht ausweichen, stellte deshalb Konrad Sam auf ein Jahr ein, machte aber von Beginn an deutlich, dass der neue Prediger nicht auf die Unterstützung des Rates hoffen konnte. Sam, ein Anhänger von Huldreich Zwingli, wandte sich wortstark unter anderem gegen die Verehrung der gottlosen Götzen, d.h. der zahllosen Heiligenfiguren und Altären in den Gotteshäusern.
Das Ausgreifen reformatorischer Ideen und Forderungen erreichte erst zeitlich verzögert den Geislinger Raum. Im Dezember 1525 wandten sich 39 Geislinger Bürger und 7 Kuchener an den Ulmer Rat mit der Bitte um einen evangelischen Prediger für die 5-Täler-Stadt.
Die Kritik an der staatlichen Obrigkeit ist ab 1523 auch im Ulmer Territorium greifbar. Immer wieder flammten Aufstände gegen zu harte Besteuerung und gegen die wirtschaftlichen Missstände auf, beispielsweise 1523 in Elchingen. Seit Juni 1524 kam es zu aufrührerischen Reden und Anschlägen auf die Ulmer Stadtbediensteten. Die Unruhen griffen anschließend auf das gesamte Territorium der Reichsstadt Ulm über. Die vom Rat erhoffte Steuererleichterungen für Leipheim wurden im Dezember 1524 abgelehnt, weshalb dort Unruhen ausbrachen. Im ersten Viertel des Jahres 1525 wurde noch über die Forderungen der Bauern ergebnislos verhandelt, am 29. März 1525 kam es zur ersten Schlacht des Bauernkrieges südlich von Leipheim.
Der Entstehungszeitraum von 1524
Das Gingener Wandgemälde entstand 12 Jahre nach Fertigstellung des Langhauses. Das außergewöhnliche an diesem Wandgemälde ist, dass es die gesamte Breite des östlichen Langhauses bedeckt. Es wendet sich also ganz bewusst dem Gottesdienstbesucher als Adressaten des Bildes zu.Es gibt kein exaktes Datum, das uns über den Beginn oder das Ende der Ausmalung berichtet. Aber aufgrund der üblichen Arbeitszeiten auf Baustellen - April bis Mitte Oktober - kann man davon ausgehen, dass in diesem Zeitraum das Gemälde angefertigt wurde. Und parallel dazu gab es politische Unruhen im Ulmer Territorium zu verzeichnen.
Der Appell an die Betrachter
Das Gingener Wandbild thematisiert das ‘Jüngste Gericht’. Nach dem Verständnis der Zeitgenossen entschied sich dabei, ob die Toten in das Himmelreich eingingen oder in die Hölle verbannt wurden. Die Hölle wurde den Menschen seit dem Mittelalter als ein Ort schlimmster Qualen vermittelt. Niemand wollte dort enden. Auf diese Weise entwickelte sich das Thema vom Jüngsten Gericht zum besten Druckmittel der Kirche bei den Gläubigen.Moses - in der linken oberen Ecke des Gemäldes, seine Schrifttafel in der Hand haltend - © GvT |
Ulmer Patrizier - in der rechten oberen Ecke des Gemäldes, seine Schrifttafel in der Hand haltend - © GvT |
Die Interpretation des Gemäldes, vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund betrachtet, ist eindeutig: Die Warnungen von Moses - aus dem Himmel - und dem Vertreter der Ulmer Dorfherrschaft, dem Patrizier, sollten den aufrührerischen, von den Gedanken der Reformation vereinnahmten Betrachtern die schrecklichen Folgen ihres Handelns vor Augen führen - und im besten Fall von ihren Vorhaben abbringen.
Der Stifter
Der Stifter des Gingener Wandgemäldes war Eitel Sigmund von Berg, ein Adeliger aus dem oberen Donautal, samt seiner Familie - links die männlichen, rechts die weiblichen Mitglieder. Sie sind in kniender Haltung dargestellt. Ihre Hände sind zum Gebet gefaltet. Sie verkörpern das von Kirche und Obrigkeit geforderte Ideal.Die Stifterfamilie Berg-Speth - © GvT |
Torso des Stifters mit dem Rosenkranz in der Hand - © GvT |
Zweck des Bildes
Das Gingener Wandbild ist eine eindeutige Propaganda zugunsten der alten, der katholischen Religion und der bestehenden Obrigkeit. Dies verdeutlicht auch der ‘Zug der Seligen’ - fester Bestandteil des Motivs vom ‘Jüngsten Gericht’ - vor dem Himmelstor. In Gingen sind dort zuerst alle Mitglieder der Geistlichkeit zu erkennen: ein Papst, ein Bischof und am größten dargestellt - ein Pfarrer. Die Betrachter waren aufgefordert, durch ihren Lebenswandel und der von Moses geforderten Einhaltung der biblischen Gebote diesen Vorbildern nachzufolgen. Das Wandgemälde ist vor allem aufgrund der darin verwendeten Details eine bis heute erhalten gebliebene Gegenpropaganda zu den reformatorischen Bewegungen der Zeit um 1524.
Reaktionen auf das Wandgemälde
Dass die Zeitgenossen dieses Wandgemälde tatsächlich auch auf diese Weise verstanden, lässt sich auf zweierlei Art und Weise belegen. Im Gemälde gibt es zwei verräterische Fehlstellen: So wurde das Gesicht des Stifters Eitel Sigmund von Berg und das Gesicht des Pfarrers Georg Bleicher zerstört.Pfarrer Bleicher (rot umrandet), der Papst und der Bischof hinter ihm, alle ohne Gesichtszüge - © GvT |
Quellen und Literatur
- von Trauchburg, Gabriele, 1100 Jahre Gemeinde Gingen an der Fils. 915-2015, Gingen 2015- von Trauchburg, Gabriele, Johanneskirche Gingen/Fils - ein Kirchenführer, Gingen 2015
- Himmel, Hölle, Fegefeuer - Das Jenseits im Mittelalter. Katalog, hrsg. v. Schweizerisches Landesmuseum, Zürich 1994