Sonntag, 8. Oktober 2017

Weltkunst am Fuße der Alb - Die Nenninger Pietà des Franz Ignaz Günther

© Gabriele von Trauchburg, Oktober 2017

In der Pietà-Kapelle von Lauterstein-Nenningen befindet sich seit dem 8. Dezember 1774 ein international bedeutendes Kunstwerk - die Nenninger Pietà von Franz Ignaz Günther. Ihre berührende Geschichte und ihre weitreichende Bedeutung als Grenzpunkt einer ganzen Kunstepoche stehen im Mittelpunkt dieses Posts.

Vorgeschichte - Entstehung nach großer Hungersnot    

Zwischen 1769 und 1772 ereignete sich eine Naturkatastrophe - vermutlich auf Island brach ein Vulkan aus. Die Nachwirkungen dieses Ausbruchs - eine große Menge an vulkanischer Asche gelangte in die Atmosphäre und verursachte einen sogenannten vulkanischen Winter. In der Folge drangen kaum noch Sonnenstrahlen auf die Erdoberfläche vor. Die Durchschnittstemperatur sank beträchtlich; in ganz Mitteleuropa verzeichnete man Schneefälle bis in den Monat Juni; gleichzeitig band die verschmutzte Luft große Mengen an Wasser, was zu vermehrten Niederschlägen führte.
Die Menschen damals waren von ihren eigenen Ernten abhängig, doch Kälte und Niederschlag sorgten für Ernteausfälle. Das führte dann zu einer über ganz Europa verbreiteten Hungersnot. Die Zahl der Todesfälle stieg 1771 stark an, blieb auch noch 1772 auf hohem Niveau und erreichte erst 1773 wieder durchschnittliche Werte. In jenem Jahr wurde die erste durchschnittliche Ernte wieder eingefahren und die gesamte wirtschaftliche Situation verbesserte sich allmählich.

Die Kapelle und ihre Bedeutung

Nachdem die Hungersnot überstanden war, beschlossen die Nenninger Dorfherrschaft und Kirchengemeinde, die alte Kapelle von 1582 abzureißen und durch eine neue zu ersetzen. Diese Kapelle lag außerhalb des Ortes in direkter Nähe zum Wasserfall der Lauter am Weg zu den Feldern und zu den Wiesen. Möglicherweise war sie durch Überschwemmungen beschädigt worden.
Sie war der schmerzhaften Jungfrau Maria und den Heiligen Florian und Wendelin gewidmet gewesen. Die beiden Heiligen Florian und Wendelin sind für die ländliche Bevölkerung von großer Bedeutung, wie weiter unten noch erklärt wird. 

Die Kapelle - ein Gemeinschaftswerk von Dorfherr und Dorfbewohnern

Die Kapelle ist ein großartiges Gemeinschaftswerk von Dorfherr und Dorfbewohnern. Den Grundstein zur neuen Kapelle legte 1774 der damalige Dekan von Geislingen und Donzdorfer Pfarrer A. G. Schroz. Den Entwurf für den Bau lieferte der damals hochangesehene Baumeister Johann Michael Keller aus Schwäbisch Gmünd. Die notwendigen Baumaterialien - Holz, Dachziegel und Kalk - spendete der Nenninger Dorfherr Maximilian Emanuel von Rechberg. Die Steine stammten wohl noch von der alten Kapelle. Die Bauarbeiten übernahmen die Dorfbewohner, teils im Hand- und Spanndienst, teils als persönliche Spende. Schon am 12. Juni 1774 weihten der Donzdorfer Pfarrer und Dekan Schroz sowie der Nenninger Pfarrer Kübler die Kapelle.

Die Pietà-Kapelle von 1774 am Ortsausgang von Lauterstein-Nenningen - © GvT

Die Patrozinien und ihre Bedeutung

Allein die Verehrung der beiden Heiligen Florian und Wendelin weist deutlich darauf hin, vor welchen Schicksalsschlägen die Bewohner Nenningens sich am meisten fürchteten und wofür sie beteten.
Der Heilige Florian, allen bekannt als Beschützer vor Feuer, steht den Menschen auch bei Unwetter, unfruchtbarem Boden und Trockenheit bei - Phänomene, die man am Rande der Schwäbischen Alb sehr wohl kennt.
Der Heilige Wendelin ergänzt auf ideale Weise die Wirkung von Florian. Wendelin ist der Patron der Hirten, Bauern und Schäfer, zudem des Viehs. Er hilft gegen Viehseuchen und sorgt für gutes Wetter und gute Ernte. 

Der Weg der Pieta nach Lauterstein-Nenningen  

Nach dem Neubau benötigte die Kapelle eine eigene Ausstattung. Dazu verhalf der tiefgläubige Dorf- und Patronatsherr Maximilian Emanuel von Rechberg. Seine Vorfahren und er selbst hatten hochrangige Stellen am kurfürstlichen Hof in München inne. Es gehörte unter anderem zu ihren Aufgaben, über sämtliche Facetten künstlerischer Entwicklungen und über die angesagtesten Künstler stets bestens informiert zu sein.
Die Entscheidung von Maximilian Emanuel von Rechberg, den Auftrag an den Münchner Hofbildhauer Franz Ignaz Günther zu vergeben, verwundert daher nicht. Zudem lag Günthers Werkstatt nur gute 200 Meter vom Rechberg-Palais entfernt.

Der Bildhauer erhielt 125 Gulden für seine Arbeit, die der Auftraggeber nicht aus den laufenden Betriebskosten seiner Herrschaften, sondern aus seinem Privatvermögen beglich. Am 8. Dezember 1774 kam der Transport mit der Figurengruppe im Dorf an.

Die Nenninger Pietà von Franz Ignaz Günther, 1774 - © GvT

Der Künstler

Franz Ignaz Günther  (1725-1775) sammelte seine ersten kunsthandwerklichen Erfahrungen in der väterlichen Schreinerei im Markt Altmannstein (Lkr. Eichstätt). Dieser Ort war der Fürstin Portia, einer Tante von Maximilian Emanuels Ehefrau Walburga, im Jahre 1731 vom damaligen Kurfürsten Karl Albrecht geschenkt worden. Als sich die herausragenden Talente des 19jährigen jungen Mannes zeigten, vermittelte sie oder ihr Mann, Fürst Portia, die Kontakte zum in jener Zeit führenden Münchner Bildhauer, Johann Baptist Straub.
Ab 1744 lernte Günther bei Straub. Anschließend begab er sich ab 1750 auf Wandschaft – zunächst nach Salzburg, dann nach Olmütz (Mähren, 1752) und schließlich zur weiteren theoretischen Ausbildung in die Bildhauerklasse der Akademie in Wien (1753), die er mit 'Premium' abschloss. Nach München kehrte er im Jahre 1754 zurück, ließ sich vom Zunftzwang befreien und gründete seine eigene Werkstatt.
Ab dieser Zeit war er hauptsächlich für kirchliche Auftraggeber tätig, schmückte mit seinen lebensgroßen Figuren aber auch die Münchner Adelspalais aus. Durch die familiären Verbindungen des Maximilian Emanuel von Rechberg mit den bayerischen Adelsfamilien Törring, Preysing und LaRosée muss er schon früh auf den noch sehr jungen Franz Ignaz Günther aufmerksam geworden sein. Zudem kannten die Rechberg die Künstlerfamilie Straub, die aus der bayerischen Exklave Wiesensteig - von der Familie Rechberg zwischen 1667 und 1803 verwaltet - stammte.

Die Nenninger Pietà als Höhe- und Endpunkt des Rokoko

Schriftliche Unterlagen zur Entstehung des Kunstwerks von Seiten des Auftraggebers oder des Bildhauers gibt es keine mehr. Es gab aber sicherlich intensive Gespräche zwischen beiden Männern, in deren Verlauf der Künstler dem Mäzen zwei Modelle der Pietà präsentierte. Diese werden heute im Bayerischen Nationalmuseum in München und im Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart gezeigt.
Die Nenninger Pietà besitzt eine außergewöhnliche Ausdrucksstärke. Sie entstand durch die exakten anatomischen Details, die Günther herauszuarbeiten verstand und durch die bewußt gestaltete Farbgebung.
Das Gesicht der Maria zeigt deren unendlichen Schmerz beim Verlust ihres Sohnes. Bei der Gestaltung der Muttergottes konnte der Künstler wohl auch den Tod der eigenen, während der Hungersnot verstorbenen sieben Kinder verarbeiten. 
Die vielschichtige Gestaltung Christi lässt sich erst in Verbindung mit der von Günther vorgegebenen Farbgebung entschlüsseln. Im Gegensatz zum roséfarbenen und damit Lebendigkeit signalisierenden Gesicht der Muttergottes ist der Leib Christi in eine bläulich-weiße Farbe gehüllt, die den kurz zuvor eingetretenen Tod Christis markiert.

© GvT

Was Günther mit dem Hilfsmittel Farbe gelang - die Darstellung vom Hinübergleiten vom Leben in den Tod - das setzte er auch in der Gestaltung des Körpers um. Christus gleitet aus dem Schoß seiner Mutter zum Boden hinab. Nur noch das Knie der Muttergottes, auf dem noch die Achselhöhle von Christus ruht, hält den Körper davon ab, vollständig auf die Erde zu gleiten. Auch das frei schwebende Bein Christi verstärkt diesen Eindruck.
Bei genauer Betrachtung erkennt man deutlich, dass im Körper von Christus ein Moment der Bewegung festgehalten ist. Christus entgleitet sowohl im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne seiner Mutter. Mit seiner Darstellung überwand Franz Ignaz Günther die bis dahin statische Darstellung von Skulpturen zugunsten von scheinbar erstarrten Bewegungen seiner Figuren.

Was Maximilian Emanuel von Rechberg damals, als er den Auftrag an Franz Ignaz Günther erteilte, noch nicht ahnen konnte, war die Tatsache, daß er die dritte und letzte Pietà-Darstellung des renommierten Künstlers erwarb. Ein halbes Jahr nach ihrer Fertigstellung starb der Künstler.
Unter Spezialisten gilt dieses Werk als das eindrucksvollste und damit bedeutungsvollste von Günther und seinen Zeitgenossen überhaupt. Mit Günthers Tod endet die Epoche des süddeutschen Rokokos und die Nenninger Pieta wird zum Höhe- und Endpunkt einer ganzen Kunstepoche.

Früher auf großen Ausstellungen - heute nur noch vor Ort

Wegen ihrer außerordentlichen Ausdrucksstärke fasziniert die Figurengruppe ihre Betrachter bis heute. Um diese Wirkung einem breiten Publikum erfahrbar zu machen, wurde sie im Laufe der Zeit bei großen nationalen und internationalen Ausstellungen der Öffentlichkeit vorgestellt:
  • 1951 auf der großen Ausstellung ’Franz Ignaz Günther’ in München
  • 1951 im Landesmuseum in Stuttgart
  • 1954 in der National-Gallery in London
  • 1954 im Louvre in Paris
  • 1958 auf der Weltausstellung im päpstlichen Pavillon in Brüssel 
  • 1981 bei der Ausstellung ‘Barock in Baden-Württemberg’ im Schloß Bruchsal und 
  • von Okt. 2004 - Mai 2005 bei der Ausstellung ‘Große Kunst im Kleinformat’ im Landesmuseum Stuttgart (Altes Schloss).
Eine Anfrage für eine Ausstellung in New York im Jahre 1960 wurde aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Doch aufgrund jüngster denkmalpflegerischer Begutachtung darf dieses Kunstwerk nicht mehr von seinem Platz bewegt werden. Nur wer nach Lauterstein-Nenningen kommt, kann diese Weltkunst am Fuße der Alb aus direkter Nähe betrachten.


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